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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Essen gestört wird», hat er gesagt, «will ich überhaupt kein Filmstar sein.»
    Es war eine so schöne Zeit. Auch wegen des Films. Aber vor allem wegen der Jungs.
    «Pappie», haben sie zu mir gesagt.
    Pappie.
     
    «Neue Rubrik: Kinder», diktiere ich. «Ein Spielplatz mit verschiedenen Geräten. Eine Schaukel. Eine Rutschbahn. Eine Wippe. Und so weiter. Lautes, fröhliches Kindergeschrei. Strahlende Gesichter. Ein Kind fällt hin und weint. Wird getröstet. Eine kleine Hand, die vertrauensvoll nach der größeren fasst.»
    «Schön», sagt Frau Olitzki.
    «Zwei Jungs, nebeneinander im Schulzimmer.»
    Marcel und Kees.
    «An den Wänden selbstgemalte Bilder. Landschaften. Tiere. Eine Sonne mit lachendem Mund. Der Lehrer zeigt auf einer Landkarte, wo Theresienstadt liegt. Die Jungen passen nicht auf. Flüstern sich etwas zu. Ein zusammengefalteter Zettel wird durch die Reihen gereicht. Ein Mädchen öffnet ihn und errötet. Spielt verlegen mit den langen blonden Zöpfen.»
    «Blond?», fragt Frau Olitzki.
    «Streichen Sie blond .» Es gibt keine blonden Juden. Nicht in einem Film für Karl Rahm.
    Sie bringt mich aus der Konzentration mit ihren Einwänden. Erinnert mich daran, dass ich mir das Drehbuch nicht für die Ufa ausdenke. Wo alle Mädchen mit Zöpfen automatisch blond waren. Man musste aufpassen, dass die Hintergründe nicht zu hell waren. Wegen des Kontrasts. Ich will das nicht. Wenn man mich ständig mit der Nase auf die Wirklichkeit stößt, fällt mir nichts ein.
    Ich ärgere mich über die Unterbrechung und ärgere mich darüber, dass ich mich ärgere.
    «Was gibt es noch?», sage ich. «Kinder, die Fangen spielen. Ein Junge, der auf den Händen läuft. Mehrere Kinder nebeneinander, aufgereiht wie Orgelpfeifen. Zahnlücken. Fällt Ihnen auch noch etwas dazu ein?»
    «Ich hatte nie Kinder», sagt Frau Olitzki.
    «Das tut mir leid», sage ich.
    «Heute bin ich froh darüber», sagt sie.
    Ich erzähle Olga von diesem Gespräch. Dass Frau Olitzki keine Kinder hat, und wie sie damit umgeht. «Sie ist ein vernünftiger Mensch», sage ich. Und Olga, meine immer beherrschte Olga, schreit mich an.
    Wir haben Tee getrunken, irgendwelches Grünzeug in heißem Wasser, und jetzt wirft sie ihr Glas auf den Boden «Das darfst du nicht!», schreit sie. «Alles andere von mir aus. Aber nicht das!»
    Zuerst verstehe ich überhaupt nicht, was sie will.
    «Du kannst diesen Film drehen», sagt sie, und ihre Stimme wird gleich reißen. «Du kannst ihren Propagandafilm drehen, und niemand darf dir deswegen einen Vorwurf machen. Du kannst buckeln und dich verbiegen und Rahm die Füße küssen, wenn er es verlangt. Ich werde es nicht kritisieren. Man lässt dir keine Wahl, und darum hast du auch keinen Grund, dich dafür zu schämen.
    Aber du darfst nie – nie, hörst du, Kurt? –, du darfst nie sagen oder auch nur denken, dass irgendetwas von dem, was mit uns geschieht, dass auch nur die kleinste Ecke davon vernünftig ist oder logischoder selbstverständlich. Weil es das nicht ist. Es ist nicht vernünftig, wenn jemand froh ist, keine Kinder zu haben. Du weißt das besser als jeder andere. Es ist nicht logisch, wenn man sagt: ‹Ich bin dankbar, dass er nicht geboren wurde.› Wenn man sich freut, weil jemand gerade noch rechtzeitig weggestorben ist, bevor man ihn umbringen konnte. Das ist nicht normal, und du darfst das nie vergessen. Nicht eine Sekunde lang. Nie.»
    Meine Olga. Sie stampft mit dem Fuß auf und wirft den Kopf zur Seite, um die Haare, die sie nicht mehr hat, aus der Stirn zu schleudern. Ich liebe diese Geste an ihr.
    Ich liebe alles an ihr.
    Dann reibt sie sich die Hände an ihrem Kleid ab, als ob sie etwas Schmutziges angefasst hätte, und ist wieder ganz ruhig. Hebt das Glas auf, das zum Glück nicht zerbrochen ist. Lächelt mich an.
    Sie hat recht. Aber es ist nicht leicht, was sie verlangt.
    Ich weiß noch, als wir die holländische Übersetzung von Schneewittchen aufnahmen, die allerletzte Arbeit, die L.C.B. für mich hatte, als wir den ganzen Tag im Tonatelier zubrachten, und auf der Leinwand hüpften diese bunten Disney-Figuren herum, Stoetel und Giechel und Niezel und Grumpie, als die Schauspieler in diese komischen Männchen hineinschlüpften und für sie sprachen – da war man jedes Mal überrascht, wenn in der Pause jemand wieder seine eigene Stimme hatte.
    Das schafften nicht alle. Manche piepsten oder heiserten weiter. Merkten es gar nicht. Es ist leicht, sich mit seiner Rolle zu verwechseln.

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