Gerron - Lewinsky, C: Gerron
paar Tagen klar wurde, dass die Welt, nach der er sich so zurücksehnte, gar nicht mehr existierte. Dass er in Berlin keinen Platz mehr hatte und keine Bedeutung. Dass sich alles verändert hatte, in den drei Jahren, in denen er weg gewesen war.
Wie wenn man nach einem auswärtigen Gastspiel in ein Theater zurückkommt, in dem man viele Jahre gespielt hat, wo man einmal zum Ensemble gehört hat, und jetzt hat eine neue Direktion nicht nur den Spielplan geändert, sondern auch sonst alles umgebaut, schon die Fassade sieht anders aus, durch das Kassenfenster schaut einen ein neues Gesicht abweisend an, und am Bühneneingang sitzt nicht mehr der vertraute Pförtner, sondern ein Mann, der einen nicht kennt. Wenn man sich ihm vorstellt, schüttelt er den Kopf und sagt: «Sie können hier nicht rein. Sie haben Hausverbot.»
Vielleicht war es auch etwas viel Schlimmeres. Papa hat es uns nie gesagt.
Seine Haare sind nicht über Nacht weiß geworden. Obwohl es das gibt. Ich habe es in Amsterdam bei einer Frau gesehen, deren Sohn bei einer Razzia wegzulaufen versuchte, und dem sie in den Rücken geschossen haben. Aber seit jenem Tag, seit jener Reise nach Berlin, war er ein alter Mann.
Noch keine Reaktion von Rahm. Die Kommandantur hüllt sich in Schweigen.
Ich spiele unterdessen Ufa. Weil Eppstein das von mir erwartet, und weil es mir guttut. Es ist angenehm, sich in die alten Gewohnheiten hineingleiten zu lassen. Wieder einmal im eigenen Element zu sein. Zu merken, dass man nichts vergessen hat. Der Lorre hat manchmal für ein paar Tage mit seiner Spritzerei aufgehört, nur damit er wieder damit anfangen konnte. Heute verstehe ich das. Ich bin süchtig aufs Filmemachen.
Ich spiele Kurt Gerron. Stecke mir beim Diktieren einen Bleistift in den Mund und kaue darauf herum. Warum ich das tue, hat mich Frau Olitzki gefragt. «Weil ich ohne Zigarre nicht denken kann.» Sie hat mich sehr zweifelnd angesehen.
Zusammen mit ihr stelle ich Listen auf. Themen, die im Film vorkommen müssen. Mögliche Drehorte. Probleme. In Theresienstadt ist Papier Mangelware, aber Eppstein hat uns einen ganzen Packen hinlegen lassen.
«Verpflegung», diktiere ich. «Bis zum Rand vollgeschöpfte Teller. Tischtücher. Besteck. Mehrere Gänge. Weiße Handschuhe für das Personal an der Essensausgabe.»
Die Schreibmaschine hört auf zu klappern. Frau Olitzki schaut mich an. «Ich kenne Sie noch nicht so gut», sagt sie. «Das mit den Handschuhen – war das ein Witz, oder soll ich das wirklich schreiben?»
Der ganze Film ist ein Witz, Frau Olitzki.
«Schreiben Sie es hin», sage ich.
Weiße Handschuhe für das Personal an der Essensausgabe. Schnabulierende Kinder.
Damals bei der Stadtverschönerung, als das Rote Kreuz zuschaute, haben die Kinder Sardinenbrötchen bekommen, und man hatte ihnen beigebracht zu sagen: «Nicht schon wieder Sardinen, Onkel Rahm!»
Man hat ihnen vorher erklären müssen, was Sardinen sind.
«Kochende Frauen», diktiere ich. «Eine dicke Köchin, die in einem riesigen Kessel rührt. Sie sagt etwas, und die anderen Frauen lachen.»
«Ich glaube nicht, dass Sie hier in Theresienstadt eine dicke Frau finden», sagt Frau Olitzki.
«Dann machen Sie eine Anmerkung in der Rubrik Probleme .»
In der Küche arbeiten nur Männer. Außer beim Kartoffelschälen.
«Junge, hübsche Kartoffelschälerinnen sitzen im Kreis», diktiere ich. «Sie singen ein Lied.»
Wenn einer rote Backen hat oder sonst sichtlich gesund ist, sagt man hier in Theresienstadt: «Er arbeitet in der Küche.» An der Quelle leidet man keinen Durst.
Einmal hat es eine Untersuchung gegeben. Der Loewenstein von der Ghettowache hat sie durchgeführt. Er hat festgestellt, dass die Küchen- und Proviantleute fast soviel Essen gestohlen wie verteilt haben. Aber weil die wichtigen Leute im Ältestenrat auch ihre Extraportionen abkriegten, hat man die Geschichte unterdrückt. Ihn auf einen anderen Posten abgeschoben.
«Vor der Küche, Doppelpunkt», diktiere ich. «Von einem Wagen wird ein halbes Rind abgeladen.»
«Wo bekommen wir das her?», fragt Frau Olitzki.
«Wir drehen, wenn die Wachmannschaft ihre Vorräte angeliefert kriegt.»
«Wann haben Sie zum letzten Mal Fleisch gegessen?»
«Vor zwei Wochen», sage ich. «Da war in der Suppe etwas drin, das könnte Fleisch gewesen sein.»
«Könnte», sagt sie.
«Ein Braten», diktiere ich. «Groß im Bild ein Messer, das dicke Stücke davon abschneidet. Saft läuft heraus. Eine Frau steckt prüfend
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