Gerron - Lewinsky, C: Gerron
den Finger hinein und leckt ihn ab.»
Ein Märchenfilm. Tischlein, deck dich. Esel, streck dich.
Knüppel aus dem Sack.
Jeder Film ist ein Märchenfilm. Wer sich ins Kino setzt, will träumen. Will Prinzen sehn und Prinzessinnen, und bevor es wieder hell wird, sollen sie sich auch kriegen. Die Wirklichkeit rollt er zusammen wie seinen Regenmantel und verstaut sie unter seinem Sitz.Wenn es ein guter Film war, fällt ihm erst sehr viel später wieder ein, dass er sie dort vergessen hat.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Die größten Träumer sitzen nicht im Zuschauerraum. Die findet man im Atelier. Im Produktionsbüro. In der Kommandantur. Menschen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sich mit vierundzwanzig Bildern pro Sekunde die Welt verändern lässt. Dass man sich mit einem Zelluloidstreifen eine goldene Nase verdienen kann. Oder ein Lob von Heinrich Himmler. Lauter Meschuggene. Karl Rahm ist so verrückt wie Loet Barnstijn.
Ich bin kein bisschen besser. Ich spüre die Pistole im Nacken – es gibt da eine Stelle, hat mir der kleine Korbinian erklärt, wenn man dort ansetzt, kippen sie um und sind weg –, und mein Kopf tritt nicht in den Ausstand, sondern hat Einfälle. Denkt sogar: Das kann ein ganz toller Film werden.
Verrückt. Ich bin ein Zwock, wie die alten Theresienstädter sagen. Gehöre ins Zwockhaus. In die Zwockarna.
Ein ansteckender Wahnsinn. Frau Olitzki hat mich gefragt, ob man nicht aus dem Kaffeehaus eine Bierhalle machen könnte. Weil wir doch in der Tschechei sind. Ein großes Fass mit Pilsner, stellt sie sich vor. Die Gäste heben ihre Humpen in die Kamera und singen ein Lied. Das müsste doch gut aussehen, hat sie gesagt.
Bacillus cinematographicus.
Keiner, aber wirklich keiner, ist immun dagegen. Der de Jong damals, als wir seinen Roman verfilmten, wollte mit Kino überhaupt nichts zu tun haben. Wir sollten ruhig machen, wenn wir wollten, aber seine Sache sei das nicht. Und dann war er vom Dreh nicht mehr wegzukriegen. Hat sogar selber den Pastor gespielt. Nicht einmal schlecht.
Ein netter Kerl. Verstand was von Menschen und von Zigarren. Eine bessere Mischung gibt’s nicht. Ein SS-Kommando hat ihn erschossen, als Vergeltung für einen Anschlag. Ich habe es in Westerbork erfahren.
Eine Zeitmaschine müsste man haben. Den de Jong noch einmal treffen. Noch einmal mit ihm über Zigarren fachsimpeln. Er hatselber Tabak angebaut – in Holland! – und ständig versucht, mir zu erklären, warum sein Knaster eine ganz besondere Qualität habe. Ich habe so lang keinen Zigarrenrauch mehr gerochen, dass auch eine von seinen Stinkadores ein unendlicher Genuss wäre.
Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, wäre ich nicht in Theresienstadt. Dann würde ich die Dinge anders machen, anders gemacht haben, und säße jetzt an einem Schwimmbassin in Hollywood, links der Lorre, rechts die Marlene, und vor mir ein Butler, der auf einem Silbertablett echte Havannas präsentiert.
Ah, Havannas.
Meinen Merijntje möchte ich auch noch einmal treffen. Den Marcel Krols mit seinen weißblonden Haaren und den staunenden Augen. Dieses Gesicht, das sich von selber photographierte. Ein hochbegabter Junge. Hat die ganzen Profis an die Wand gespielt. Damals war er elf, dann muss er heute neunzehn sein. Wahrscheinlich Soldat. Vielleicht schon totgeschossen.
Wenn man da capo leben könnte – ich glaube, ich würde nur immer wieder diesen Film drehen. Eine so schöne Arbeit! Wenn ich es auch nie geschafft habe, den Titel richtig auszusprechen. Merijntje Gijzens jeugd . Der de Jong hat gemeint: «Du sagst das so brabantisch, wie ich Berlinisch kann.»
Erschossen. Haben an seiner Tür geklingelt, und als er aufmachte …
Man muss nicht Jude sein, um ermordet zu werden. Herr Tigges würde sagen: «Sehen Sie, bei uns werden alle gleich behandelt.»
War auch so ein Märchenfilm, Merijntje. Man konnte sich ins Kino setzen und anderthalb Stunden lang wieder Kind sein.
Zeitmaschine.
Wir hatten einen großen Erfolg. Ein enormer Schritt vorwärts für die holländische Filmindustrie , stand in Het Volk. Wir behaupten alle, dass wir keine Kritiken lesen, und können sie doch auswendig. Aber das ist nicht der Grund, warum ich mich gern daran erinnere. Ich habe die Drehzeit so genossen. Jeden einzelnen Tag. Der Kameramann kam aus Ungarn, der Tonmeister aus Deutschland, undtrotzdem waren wir mehr als nur eine Mannschaft. Wir waren eine Familie.
Pappie haben sie mich damals in
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