Gerron - Lewinsky, C: Gerron
gekommen.
Das Karussell untersteht, genau wie der Film, der Abteilung Freizeitgestaltung. Die ihrerseits dem Ältestenrat untersteht. Der seinerseits Rahm untersteht.
Freizeitgestaltung . Ein Ghettowort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss.
Frei. Zeit. Gestaltung.
Wir sind ja alle so ungeheuer frei in Theresienstadt. Frei, Läuse zu bekommen. Frei, zu verhungern. Frei, die Ruhr zu kriegen und uns auf der Latrine totzuscheißen. Da macht uns keiner Vorschriften. Das können wir halten, ganz wie wir wollen. Zeit haben wir auch. Bis zur nächsten Krankheit. Bis zum nächsten schlechtgelaunten SS-Mann. Bis zum nächsten Transport. Und das alles dürfen wir gestalten. Sollen wir sogar gestalten. Künstlerisch. Weil es Rahm in die Rubrik Kulturelle Aktivitäten eintragen will, und die Rubrik ist ein wichtiger Teil in seiner Buchführung. In der auch ich eine Stelle hinterm Komma bin.
An meinem zweiten Tag in Theresienstadt wurde ich in die Magdeburger bestellt. Zu einem Dr. Henschel. Ein netter älterer Herr mit traurigem Mund. Wässrige Augen hinter einer runden Brille. Als ob er immer gleich weinen würde. Dreiteiliger Anzug mit Krawatte. Sehr korrekt. Er spricht leise und schaut dabei an einem vorbei. Aber er weiß exakt, was er will. Früher einmal – in der guten alten Zeit , wie Otto das immer nannte – war er ein erfolgreicher Anwalt. Jetzt ist er Mitglied des Ältestenrats.
«Ich bin der Leiter der Freizeitgestaltung», stellte er sich vor. Das erste Mal, dass ich das Wort hörte. «Ich habe Sie meiner Abteilung zuordnen lassen, weil wir Leute wie Sie brauchen. Sie werden hier ein Kabarett auf die Beine stellen.»
«So etwas wie in Westerbork?»
Er antwortete nicht gleich. Das ist so eine Eigenart von ihm, dass er sich die Zeit nimmt, gründlich zu überlegen, bevor er etwas sagt. Hat er sich wohl in seiner Anwaltszeit angewöhnt. Schließlich schüttelte er den Kopf. «Die Aufgabenstellungen lassen sich nicht wirklich vergleichen. Wir genießen hier nicht die gleiche Unterstützung, wie Sie es von dort gewohnt sein werden. Aber es ist der Wunsch des Lagerkommandanten, dass generell solche Aktivitäten unternommen werden sollen. Sie werden hier also mehr …» Er suchte nach dem exakt richtigen Wort. Wenn er nachdenkt, blinzeln seine Augen hinter der Brille. «… mehr improvisieren müssen als dort. Eigeninitiative entwickeln. Sie werden das schon lernen.»
Ich habe es gelernt. Spätestens an dem Tag, als man uns diesen Dachboden für unsere Aufführungen zuwies.
«Karussell» , sagte Dr. Henschel. «Was halten Sie von dem Namen?»
Karussell. Mein wahrscheinlich letztes Ensemble. Wenn der Krieg nicht bald zu Ende geht. Die Alliierten stehen in Brüssel, sagt der Mundfunk.
Brüssel ist so weit weg.
«Von mir aus, Karussell », sagte ich.
Damals, am Anfang, dachte ich, es würde doch so sein wie in Westerbork. Kabarett als Druckposten, der einen vor dem Osttransport schützt. Dort hatte es für mich nicht geklappt, wegen meiner Scheißkrankheit. Scheißkrankheit . Mein Kopf macht die Kalauer mal wieder automatisch. Jetzt würde ich der Theaterdirektor sein. Max Ehrlich und Willy Rosen in einem. Das Streichquartett würde ich einbauen, nahm ich mir vor. Gleich im ersten Programm. Die Rolle spielen, die sie mir in Westerbork nicht gegönnt hatten. Einesichere Nummer mit sicheren Lachern. Ein paar Sketche, ein paar Lieder. Die Leute auf andere Gedanken bringen.
Dr. Henschel sagte: «Nein.» Hatte sich nicht nur einen Namen für mein Kabarett ausgedacht, sondern sich auch schon die Inhalte überlegt. War auf das Gespräch vorbereitet wie auf ein Plädoyer.
«Sehen Sie, Herr Gerron», sagte er und schaute immer noch an mir vorbei, «all diese Dinge, Kabarettprogramme, Konzerte, Vorträge, die werden ja nicht gefördert, um uns eine Freude zu machen. Man will sagen können, dass sie stattfinden. Will der Welt beweisen, wie gut es uns geht. Theresienstadt ist ein Schaufenster, und Schaufensterpuppen haben zu lächeln. Auch wenn das Lächeln aufgemalt ist. Nur: Wir sind keine Puppen. Solang wir noch unsere eigenen Gedanken denken, sind wir Menschen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?»
Ich verstand ihn nicht wirklich.
Er nahm seine Brille ab und putzte sie. Sorgfältig. Eine Geste, die wohl auch aus dem Gerichtssaal stammte. «Ich will versuchen, es Ihnen anders zu erklären. Wissen Sie, was hier im Ghetto der Orientierungsdienst ist?»
«Tut mir leid.»
«Es kommt häufig vor,
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