Gerron - Lewinsky, C: Gerron
meistens bei alten Leuten, aber auch bei jungen, dass Menschen hilflos durch die Stadt irren. Nicht mehr wissen, wo ihre Ubikation ist, oder überhaupt wo sie sind. Sich nicht mehr zurechtfinden. Die werden dann vom Orientierungsdienst betreut. An den richtigen Ort gebracht. Wieder in die Wirklichkeit – wie soll ich das nennen? – eingeschlauft. So etwas Ähnliches, stelle ich mir vor, sollten Sie mit Ihrem Kabarett machen.» Er setzte die Brille wieder auf und sah mir zum ersten Mal ins Gesicht. «Ein Orientierungsdienst für die Seele, gewissermaßen. Trauen Sie sich das zu, Herr Gerron?»
Orientierung? Man kann nicht geben, was man selber nicht hat. Das haben wir auch gleich in unser Titellied eingebaut.
Wir reiten auf hölzernen Pferden und werden im Kreise gedreht. Wenn schwindlig wir haltmachen werden, dann wird man erst sehn, wo man steht.
Wenn wir nicht alle vorher vom Karussell gefallen sind.
Nein, Orientierung haben wir nicht zu bieten. Aber wir witzeln auch nicht einfach. Spielen keine Blackouts für den schnellen leeren Lacher. Bei uns tanzt Frau Meier nicht Tango. So einfach macht es sich das Karussell nicht. Jede Nummer, selbst wenn sie scheinbar ein ganz anderes Thema hat, handelt von Theresienstadt. Von unserer Situation. Von der Politik. Wenn ich meine Ansprache halte, als Generaldirektor, der seinen Leuten die Löhne nicht mehr bezahlen kann und versucht, sie mit Parolen hinzuhalten, dann weiß jeder, wer damit gemeint ist. Ich brauche den Goebbels gar nicht zu imitieren. So billig machen wir es nicht. Natürlich, mit gespielten Witzen könnten wir uns die Lacher einfacher holen. Das lustige Salzer-Buch würde auch hier funktionieren. Aber wir haben höhere Ansprüche.
Ansprüche. Kultur mit rollendem R. Kuultuurrr. Früher hätte ich darüber gelacht. Hätte unterschrieben, was der Rudolf Nelson einmal zu mir gesagt hat: «Anspruch ist, wenn die Kasse nicht stimmt.» Aber wir haben ja keine Kasse. Nur Zuschauer.
Ich habe eine Menge Erfolg gehabt in meinem Leben. Meistens ohne eigenes Verdienst. Ich mache mir da nichts vor. Es war einfach Glück. Ich habe im richtigen Moment die richtigen Rollen gekriegt. Mit den richtigen Kollegen. Wenn es so weitergegangen wäre, wenn einer den Hitler rechtzeitig erschossen hätte, oder er wäre an seinem Schnurrbart erstickt, dann könnte ich mir jetzt aus meinen Lorbeeren Suppe kochen. Könnte mir jeden Tag bei Schlichter einen Hummer bestellen oder bei Horcher einen Faisan de presse. Aber richtig stolz könnte ich nicht sein.
Auf das Karussell bin ich stolz. Auf jede einzelne Vorstellung. Auf jeden einzelnen Lacher. Auf jede einzelne Träne.
Am meisten auf das Stück Brot, das mir eine Frau einmal nachder letzten Nummer gebracht hat. Um danke zu sagen. Eine ganze Scheibe Brot. Ich bin der verfressenste Mensch der Welt, aber ich habe sie nicht angerührt. Sie liegt immer noch neben der Konservendose mit der vertrockneten Rose. Auch wer nichts hat, kann Kostbarkeiten besitzen.
Es ist peinlich, sich so etwas eingestehen zu müssen, nach fast einem Vierteljahrhundert auf der Bühne, aber zum ersten Mal in meiner Karriere habe ich begriffen, um was es beim Theaterspielen eigentlich geht. Dass es auf die Inhalte ankommt und nicht auf die Wirkungen. Der Mackie-Messer-Song oder das Nachtgespenst , das waren Knüller, ja. Aber mit mir hatten sie eigentlich nichts zu tun. Ich war nur ihr zweibeiniges Grammophon. Ohne Butter, ohne Eier, ohne Fett ist als Chanson nicht halb so gut. Egal. Es betrifft mich. Ich habe mit dem Lied etwas zu sagen. Und zwar nicht wie der Brecht, dem das Verkünden immer mindestens so wichtig war wie das Verkündete. Ich muss nicht an die Rampe marschieren und Parolen schmettern. Es geht auch leiser.
Parolen würden auch gar nicht durch die Zensur kommen. Jeder Text muss von der Kommandantur bewilligt werden. Zum Glück haben die dort kein Gehör für Zwischentöne. Sie streichen die Sätze, die wir ihnen zum Streichen ins Manuskript schreiben, und bemerken die nicht, die uns wichtig sind. Was zwischen den Zeilen steht, überlesen sie ohnehin immer. Bis heute haben sie nicht kapiert, dass der böse Brundibár eigentlich Hitler ist. Dabei ist es doch offensichtlich. Da kurbelt einer aus seinem Leierkasten immer dieselbe Melodie und duldet keinen andern neben sich. Wer soll das sonst sein?
Im Publikum merken alle alles. Unsere Zuschauer haben feine Ohren. Hören auch die Dinge, die wir gar nicht sagen. Verstehen jeden Blick und
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