Gerron - Lewinsky, C: Gerron
jede Pause. Im Psychiater-Sketch fragt mich der Patient: «An was merkt man eigentlich, dass jemand verrückt ist?» Statt zu antworten, kratze ich mich nur an der Nase. Genau so, wie sich der Haindl an der Nase kratzt. Man kann dann immer sehen, wie die Leute die Köpfe drehen, bevor sie lachen. Um sicher zu sein, dass niemand von der Wachmannschaft in der Nähe ist.
Das ist der große Unterschied zu Westerbork: Dort saß die SS im Publikum. Eigentlich wurde nur für sie gespielt. Die Lagerinsassen durften sich nur gnädigst mit dazusetzen. Hier sind wir unter uns. Rahm käme nie auf den Gedanken, sich eine unserer Vorstellungen anzusehen. Er will nur, dass sie stattfinden. Damit er sie in seine Buchhaltung einsetzen kann. Auf der Habenseite. Kabarett plus Kurt Gerron mal sieben Vorstellungen ergibt Kultur im Ghetto.
Jede Ziffer ist addiert, jede Zeile kontrolliert , hat der Leo Strauss geschrieben . Und wenn ich dann singe: «Dennoch stimmt mir die Bilanz …», dann ergänzt das Publikum im Chor: «Nicht ganz.»
Solange wir noch unsere eigenen Gedanken denken, solange sind wir noch Menschen.
Heute haben wir Vorstellung. Ich bin froh darüber. Zum Nichtstun bin ich nicht geeignet. Man denkt dann zuviel.
Es ist möglich, dass sie jetzt, genau in dieser Minute, in Prag vor meinem Film sitzen. Vor den Einzelteilen, aus denen ich erst noch einen Film zusammenbauen muss. Die Auftraggeber sind da, oder doch ihre Vertreter. Männer mit ernsten Gesichtern. Man soll ihnen nicht anmerken, dass sie nichts von dem verstehen, was sie da beurteilen. Bei einer besonders gelungenen Einstellung geht vielleicht einmal ein anerkennendes Murmeln durch den Vorführraum, und dann sagt der Pečený: «Damit habe ich mir auch sehr viel Mühe gegeben.» Und ich sitze hier in meinem Kumbal und kann ihn nicht in den Hintern treten.
Nichtstun ist schlimm. Im Krieg ist immer wieder einer aus der Deckung geklettert und in die Kugeln reingelaufen. Weil er das Stillsitzen nicht mehr ausgehalten hat.
Ich bin meine Texte noch einmal durchgegangen, obwohl ich das gar nicht brauche. Mein Gedächtnis funktioniert. Wenn morgen die Dreigroschenoper auf dem Spielplan stünde, ich könnte den Tiger Brown fehlerfrei spielen. Ohne Wiederaufnahmeprobe. Der Albers, der sich keine Zeile merken kann, hat mal zu mir gesagt: «Da, woich Talent habe, Gerron, da hast du ein Gedächtnis.» Den Bescheidenheitspreis hätte er nicht gewonnen.
Aber ich verstehe, was er meint. Das Spielen hat ihn süchtig gemacht, nicht das Vorbereiten. Dieses Gefühl, dass man einfach rausgehen kann, dass man sich einfach hinstellen kann, sich nicht einmal anstrengen muss, und man hat die Rolle doch im Griff, die Rolle und die Zuschauer. Ein Seiltänzer will aufs Seil.
Dabei geht es nicht um Applaus. Doch, natürlich, um den auch. Aber er ist nicht das Entscheidende. Man atmet anders, wenn man auf der Bühne steht. Man spürt sich stärker. Man lebt intensiver. Man lebt. Wenn man sonst nur noch vegetiert wie der Karpfen im Bassin des Fischlokals, wenn man nichts zu tun hat, als auf den Kescher zu warten, dann ist die kleine Flucht in die Rolle etwas Kostbares. Wenn ich auf der Bühne stehe, fühlt es sich an, als ob ich mit dem Jiři draußen in der Sperrzone wäre. Im Grünen. Als ob ich der Hase wäre, den ich dort gesehen habe, und niemand könnte mich einfangen. Niemand.
Ich bin damals zum Theater gegangen, weil ich etwas werden wollte. Heute brauche ich es, um ich selber zu bleiben. Kurt Gerron, Schauspieler. Nicht: Kurt Gerron, Ghettojudski.
Olga versteht das. Sie akzeptiert meine verdrehten Maßstäbe. Lacht mich nicht aus, wenn ich nach einer Vorstellung total verzweifelt bin, weil eine einzelne Pointe nicht so angekommen ist, wie sie sollte. Sie sagt dann nicht, was jeder vernünftige Mensch sagen würde: «In unserer Situation ist das so wichtig wie ein Furz in einem Wirbelsturm.» Sie denkt es nicht einmal. Damals, als wir mit dem Karussell Premiere hatten …
Premiere . Das falsche Wort. Premiere , das sind Presseartikel und Kantinengerüchte, dramatische Kräche und überherzliche Umarmungen, das ist das Rauschen und Murmeln des Publikums, das an diesem Tag ganz anders klingt als bei einer gewöhnlichen Vorstellung, das ist der heimliche Blick durch den Schlitz im Vorhang, ob der Kerr gekommen ist und der Monty Jacobs, das ist Toitoitoi und über die Schulter spucken, hinterher bei Schwanneke sitzen und auf die ersten Kritiken warten, «der Kerr hat nicht
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