Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Matrosenanzug.
Mama war skeptisch. Vor allem, weil Großpapa ihr nicht verraten wollte, was er mit mir vorhatte. «Kannst du nicht, wie ein vernünftiger Mensch, mit ihm in den Zoologischen Garten gehen? Oder ins Museum? Muss es unbedingt nachts sein?»
«Es muss», sagte Großpapa. «Die Räuberkaschemmen, in denen wir uns sinnlos betrinken wollen, machen nicht früher auf.»
Solche Sachen verstand Mama nicht. Das war ja gerade das Besondere,dass es draußen schon dunkel wurde. Dass es ein Abenteuer war. Zu einer Stunde, wo es sonst immer hieß: «Waschen, Zähne putzen, schlafen!»
Als wir aus dem Haus kamen, zündete er sich zunächst mal eine Zigarre an und hielt auch mir das Etui hin. «Auch eine Havanna, Herr Direktor?»
«Danke nein, Herr Kollege», antwortete ich. «Ich bin mir bessere Sorten gewöhnt.»
Improvisationen haben mich noch nie geschreckt.
Großpapa lachte so heftig, dass er sich am Zigarrenrauch verschluckte. «Du bist richtig», sagte er. Meine beste Kritik.
Wir gingen dann essen, in ein Lokal mit ganz vornehmen Kellnern. Sie kannten meinen Großvater und begrüßten ihn katzbuckelnd. Herr Riese hier, Herr Riese dort. Ich kann immer noch mein Erschrecken spüren, als mir ein Ober beim Hinsetzen den Stuhl unter den Hintern schob.
«Ein Pilsner wie immer, Herr Riese?», fragte er.
«Zwei Pilsner», sagte Großpapa. «Mein junger Kollege und ich wollen miteinander anstoßen.»
Ich hatte bisher nur einmal an einem Bier genippt und den bitteren Geschmack ekelhaft gefunden. Aber als der Kellner mit den zwei Gläsern zurückkam, war in meinem Limonade. Großpapa hatte das Personal gründlich instruiert.
Wir prosteten uns feierlich zu. Dann winkte er nach der Speisekarte. Sie war so groß, dass ich sie kaum halten konnte, und von den meisten Dingen, die darin aufgeführt waren, wusste ich nicht, was sie bedeuteten.
«Soll ich für Sie bestellen, Herr Konsul?»
«Wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Geheimrat.»
Ich werde nicht wirklich so wortgewandt reagiert haben. Aber es tut mir gut, mich so daran zu erinnern.
Seltsam: Da hat man im Leben tausende Male zu Mittag oder zu Abend gegessen – und ein paar hundert Mal zu Mittag oder zu Abend gehungert –, und die meisten dieser Mahlzeiten sind schon aus dem Gedächtnis verschwunden, wenn sie noch gar nicht richtig verdautsind. Die Köstlichkeit, die mein Großvater an diesem Abend für mich auswählte, habe ich nie vergessen und sie in Hungernächten immer wieder in kulinarischer Selbstbefriedigung nachgeschmeckt.
Eine Salmmayonnaise, ungesund fett, aber unwiderstehlich. Mit Dillspitzen besprenkelt und einem zarten Hauch von Knoblauch. Dazu gab es frisches, knuspriges Brot, und das war tatsächlich noch warm, was mir als Umkehrung eines Naturgesetzes erschien. Brot war doch nur am Morgen warm.
«Schmeckt es Ihnen, Herr Direktor?»
«Danke der Nachfrage, Herr General.»
Perfekter konnte ein Abend nicht beginnen.
Denn das war erst der Anfang. Kaum hatte ich die Mayonnaise geschafft, kam erneut die Speisekarte, und ich sollte mir einen Nachtisch aussuchen. Diesmal musste man mir die Begriffe nicht erklären. Mit Süßigkeiten kannte ich mich aus. Aber dem Überfluss des Angebots saß ich hilflos gegenüber. Wenn man etwas bestellte, das einen lockte, dann hieß das ja gleichzeitig, dass man etwas anderes, mindestens so Verführerisches, nicht bestellen konnte. Vor dieser Herausforderung an meine Entschlusskraft versagte ich.
Großpapa löste das Problem souverän. «Bringen Sie von allem ein wenig», sagte er.
Keine schlechte Devise, wenn sich das Leben à la carte leben ließe.
Die Nachtische kamen auf einer riesigen Silberplatte mit vielen einzelnen Tellerchen und Schüsselchen. Ich schaffte nicht einmal die Hälfte. «Macht nichts», sagte mein Großvater. «Der Abend fängt erst an. Wenn euer Gnaden so freundlich sein wollen – unsere Droschke wartet.»
Ich war damals, in diesem Alter wohl unvermeidlich, vom Eisenbahnbazillus infiziert; daher auch der von meinen Eltern nachträglich erfüllte Geburtstagswunsch. Als der Kutscher beim Bahnhof Friedrichstraße anhielt, dachte ich einen verrückten Augenblick lang, Großpapa wolle mit mir verreisen. Ich sah uns beide schon ineinem Schlafwagen ins Bett steigen, was zu jener Zeit einer meiner ganz großen Träume war.
Aber unser Ziel lag auf der andern Seite der Straße: das Central-Hotel, dieser wilhelminische Prachtsbau, der, ein bürgerlicher Palast, gleich zwei
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