Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Regisseur sein. Nur nicht an diesen gottverdammten Film denken müssen.
Es gibt eine Werkstatt, da kleben sie den ganzen Tag Blumen aus Papier. Damit im Krematorium Sträuße auf den Särgen liegen können. Für jeden Toten ein Blumenstrauß. Denen wird die Arbeit nie ausgehen. Für mich haben sie einmal eine Chrysantheme hergestellt. Weil wir im Karussell diese Anno-dazumals-Nummer haben, und da musste – meine Sorgen möchte ich haben – ums Verrecken eine weiße Blume am Frack sein. Warum kann ich nicht dort arbeiten?
Oder in der Orthopädie künstliche Beine schnitzen? Sie machen bessere, als wir damals im Krüppelheim gekriegt haben. Kunstwerke. Nur brauchen sie zu lang dafür. Wenn sie ein Bein fertig haben, ist der dazugehörige Körper oft schon in Auschwitz.
Oder in der Landwirtschaft. Wo man wenigstens mal aus den Mauern rauskommt. Auch wenn man von dem Gemüse, das man anbaut, selber nie einen Bissen abkriegt.
Irgendwo. Scheißegal. Warum kann ich nicht eine Arbeitsstelle haben wie alle andern?
Weil ich zwei linke Hände habe, darum. Einen falsch konstruierten Verstand. Weil ich nichts anderes kann als Theater und Kino.
Weil ich ein Glumskopp bin.
Von draußen kein Ton. Als ob sie die ganze Stadt deportiert hätten und nur mich vergessen. Wie spät es wohl ist?
Wir haben alle keine Uhr. Wem man sie nicht gestohlen hat, der hat sie eingetauscht. Eine Uhr: zwei Kartoffeln. Wenn sie aus Gold ist, manchmal drei. Kein guter Preis, aber Uhren kann man nicht essen. Man braucht sie hier nicht. Wenn man dir sagt, was du zu tun hast, sagt man dir auch, wann du es tun musst.
Soll ich tun, was man mir sagt?
Das muss ich über mich herausfinden. Ob ich genügend mutig bin, um Nein zu sagen. Genügend dumm, um mutig zu sein. Nachdenken muss ich. Nicht mich wohlig in Erinnerungen wälzen.
«Du bist im Kino», sagt Olga, wenn ich mal wieder in meine Gedanken abgetaucht bin. Wir sind zwanzig Jahre verheiratet und haben unsere eigene Sprache. Wenn wir uns streiten – nein, nicht streiten, dafür fehlt Olga jede Begabung –, wenn wir miteinander diskutieren, dann genügen uns Stichworte. Wir gehen unsere Auseinandersetzungen durch wie den Stücktext für eine Wiederaufnahme. Antworten auch auf Repliken, die der andere noch gar nicht gemacht hat.
«Du bist im Kino», das heißt: «Du drückst dich vor der Wirklichkeit.» Solang ich im Wintergarten sitze, gibt es keinen Rahm. Wenn ich trotzdem Angst bekomme – Großpapa sitzt neben mir, und ich kann jederzeit seine Hand nehmen.
Ich möchte immer im Wintergarten sein.
Peter Lorre, der sich Morphium spritzt und, wenn das nicht hilft, auch anderes, hat mir einmal erklärt: «Ohne einen dicken Vorhang ist das Licht zu grell.» Das war in seinem Hotelzimmer in Paris, in dieser Absteige, wo er nicht einmal einen Stuhl für seine Kleider hatte. Jetzt sitzt er in Amerika und isst jeden Tag ein Beefsteak mit Zwiebeln.
Als kleiner Junge habe ich mir die Bettdecke über den Kopf gezogen,damit mir der schwarze Mann nichts tun konnte. Solang man ein Kind ist, hilft das.
Ich bin kein Kind mehr. Ich bin siebenundvierzig Jahre alt. Ich bin ein alter Mann.
Unsere Jugend endete im Sommer 1914. Danach war keine Welt mehr da, in der man hätte jung sein können. Sie machten aus uns Erwachsene, wie man aus der Kuh Wurst macht.
Es begann mit allgemeinem Jubel. Die Militärkapellen mit ihren Schellenbäumen machten Überstunden. In den Gewehrläufen steckten Blumen. Auch das Wetter spielte mit. Die Sonne strahlte jeden Tag vom Himmel, damit die Ehrenjungfrauen ihre duftigsten weißen Kleider anziehen konnten. Es gab viel Ehre in jenen Tagen. «Immer mehr Ehre und immer weniger Jungfrauen», sagte Kalle. Er hatte den Spruch irgendwo aufgeschnappt.
Mein der Skeptik verschworener Vater wurde plötzlich patriotisch. «Letzten Endes sind wir doch vor allem Deutsche», war seine neue Devise. Er kaufte sich eine Landkarte, um mit bunten Stecknadeln die Fortschritte des Feldzugs zu verfolgen. Zum ersten Mal überhaupt erlebte ich eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern. Es ging um Kriegsanleihe, und wieviel er davon gezeichnet hatte. Zuviel, wie sich später herausstellen sollte. In den Geschäftsbüchern von Gerson & Cie. schleppte er die Schulden, die er dafür gemacht hatte, noch jahrelang mit sich herum. Bis die Inflation ihn davon befreite.
Der Krieg begann in den Sommerferien. Die Welt, für die man uns ausbildete, für die man uns die Köpfe mit
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