Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Straßenfluchten für sich in Anspruch nimmt. Und im Central-Hotel der Wintergarten . Im Lauf der Jahre habe ich viele Vorstellungen in diesem Variété besucht; ich habe Rastelli gesehen und mich über Otto Reutter schiefgelacht. Aber nie wieder war ich so fasziniert, so verzaubert wie bei diesem ersten Mal.
Nur schon der Mann, der uns zu unsern Plätzen führte! Dass er eine prächtige Uniform anhatte, war nicht das Besondere. Uniformen sah man überall. Selbst die Dienstmänner hatten ihre martialische Verkleidung. Aber die Orden an seiner Brust waren keine Orden, sondern in buntes Papier verpackte Bonbons. Als er sein Trinkgeld bekommen hatte, riss er eines davon ab und schenkte es mir. Ich war in eine Märchenwelt geraten, noch bevor sich der Vorhang öffnete.
Und dann die Vorstellung! Ein Wunder nach dem andern! Da gab es einen Bären, der auf Rollschuhen lief. Ein Mädchen, kaum älter als ich, das mit brennenden Fackeln jonglierte. Ein Tanzpaar, das sich zerstritten zu haben schien, denn der Mann stieß die Frau immer wieder von sich weg, so heftig, dass sie regelrecht durch die Luft flog und erst nach ein paar Überschlägen wieder auf die Beine kam. «Das sind Apachen», flüsterte mir mein Großvater zu. Ich hielt das für einen seiner Scherze, denn dass Apachen Indianer sind und Federschmuck tragen, das wusste man als Siebenjähriger.
In unserem Kabarett trete ich heute selber im Apachenkostüm auf. Hinter dem roten Halstuch lässt sich diskret verbergen, dass mein Doppelkinn zum hässlichen Hautlappen heruntergehungert ist.
Auch eine Sängerin gehörte zum Programm. Ich verstand nicht, warum die Zuschauer – zumindest die Männer – nach jedem Refrain ihres Liedes so johlend lachten, aber ich bewunderte die glitzernden Steine auf ihrem Kleid. Ich hielt sie für echte Diamanten.
Ich war verzaubert. Unrettbar an die Bühne verloren.
Die letzte Nummer vor der Pause – später habe ich oft miterlebt, wie erbittert hinter den Kulissen um diesen prestigeträchtigen Programmplatz gefeilscht wird – war «der unglaubliche und einmalige Carl Hermann Unthan». Der nicht mehr ganz junge Mann, der nach dieser Ansage aus der Kulisse trat, trug keines der prächtigen Bühnenkostüme, in denen die Artisten vor ihm auf die Bühne stolziert waren. Auch keinen Frack wie der Conférencier. Eine ganz bürgerliche schwarze Samtjoppe.
Aber das Jackett – es fiel mir erst auf, als mein Großvater mich darauf aufmerksam machte – hatte keine Ärmel. Da, wo an den Schultern ihr Platz gewesen wäre, fiel der Stoff wie bei einem Cape gerade nach unten. Er war ohne Arme geboren und hatte es, wie er den Conférencier verkünden ließ, trotzdem zu einem der erfolgreichsten Variétékünstler dieser Welt gebracht.
Er demonstrierte zuerst seinen Alltag, kämmte sich mit den Füßen die Haare, setzte mit akrobatischen Verrenkungen einen Hut auf und so weiter. Dann kamen die eigentlichen Zirkuskunststücke. Er schoss mit einer Pistole das Herz aus einer Spielkarte, und dann – Trommelwirbel und Tusch – kam die ganz große Sensation: Er nahm in einem Sessel Platz, und seine blonde Assistentin stellte einen Hocker vor ihn hin. Darauf lagen eine Violine und ein Bogen. Und dann spielte Carl Hermann Unthan Geige. Mit den Füßen. Als ob das ganz selbstverständlich wäre. Ließ sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als eine Saite riss. Man brachte ihm eine andere Geige, er begann das Stück noch einmal von vorn und spielte es fehlerfrei zu Ende. Tosender Beifall. Stehende Ovationen. Mein Großvater musste mich auf die Schultern heben, damit ich sehen konnte, wie sich Carl Hermann Unthan mit bescheidenem Lächeln immer wieder verneigte.
Nicht dass ich mir den Namen damals gemerkt hätte. Der brannte sich mir erst ein paar Jahre später ein, als ich erfahren musste, dass der unglaubliche und einmalige Herr Unthan ein unglaublicher und einmaliger Idiot war.
An jenem Abend im Wintergarten erlebte ich zum ersten Mal dieses herrliche Theatergefühl, für das es keinen Namen gibt. Die Krankheit, die wir Schauspieler auf der Bühne so lustvoll erleiden, nennt man Lampenfieber. Aber wie heißt die Entsprechung beim Zuschauer? Dieses Hinschauen-Wollen und vor Aufregung schon Nicht-mehr-hinschauen-Können, dieses Mitzittern und Mitfreuen und Miterleben, dieses Gefühl, dass da oben auf der Bühne alles nur für mich passiert, für mich ganz allein, und gleichzeitig dieses Angestachelt-Werden durch die Reaktionen der andern,
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