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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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dieses Sich-gegenseitig-Hochschaukeln, im Jubel, in der Verzweiflung, im Dabeisein – warum hat unsere Sprache kein Wort dafür?
    Natürlich, es ist nicht immer so. Die meisten Vorstellungen werden nur abgesessen. Oben spielt man sich einen Wolf, und im Parkett denken die Abonnenten darüber nach, in welches Lokal sie anschließend gehen wollen. Aber manchmal, weil ein Werner Krauss auf der Bühne steht oder ein Rollschuh laufender Bär oder ein Geigenspieler ohne Arme, manchmal gelingt die Magie. Wer an so einem Abend im Theater sitzt, bleibt sein Leben lang süchtig.
    Ich wurde verzaubert, an diesem Abend aller Abende. Und hatte den Höhepunkt doch noch vor mir.
    Da war eine weiße Wand, ein Tuch nur, und darauf erschienen Bilder. Bilder, die sich bewegten. Die eine Geschichte erzählten.
    Ein Mann hielt eine Ansprache. Man konnte die Worte nicht verstehen, aber im Orchester hatte ein Musiker seine Trompete gestopft und ließ sie meckern. Dann hämmerte der Schlagzeuger auf seine Becken ein, und auf der Leinwand wurde Eisen geschmiedet. Eine riesige Granate wurde gebaut, so groß, dass man in sie einsteigen konnte. Und dann schoben hübsche Mädchen das Passagiergeschoss in eine Kanone. Hübsche Mädchen müssen sein. Eher könnte man auf den Film in der Kamera verzichten als auf sie.
    Dann schmetterten die Blechbläser die Marseillaise, und eines der Mädchen schwenkte die Trikolore. Ich erinnere mich blau-weiß-rot an sie, obwohl Filme doch keine Farben haben.
    Und dann war da der Mond, ein großes, lebendiges Gesicht, und dann – «Wumm!», machte die Pauke – steckte ihm die Granate im Auge. Ich muss vor Schreck aufgeschrien haben, denn Großpapa streichelte mir beruhigend den Kopf und sagte: «Ist ja gut, Kurtchen, ist ja gut.»
    Dann schliefen die Reisenden plötzlich ein. «Weißt du, wieviel Sternlein stehen», sang die Geige, ein Meteor kreiste über die Schlafenden hinweg, und auf einer Mondsichel – denn auch der Mond hatte wieder seinen Mond – schlenkerte eine Fee die Beine.
    Sie bemerkten von alledem nichts, sondern wachten auf und machten sich ans Erkunden. Einer steckte seinen Regenschirm in den Boden, und der Schirm wuchs und wuchs wie ein riesiger Pilz. Dann kamen die Mondmenschen und mussten bekämpft werden. Das war nicht schwer: Man musste ihnen nur einen Schlag versetzen und schon – «Pling!», machte das Triangel jedes Mal – lösten sie sich in einer Rauchwolke auf. Aber sie waren zu viele, und mit ihrer Übermacht nahmen sie die Reisenden gefangen und führten sie zu ihrem Herrscher. Damals hatte ich Kalle noch gar nicht kennengelernt, aber wenn ich an diese Szene denke, sehe ich ihn den Mondkönig spielen.
    Dann gelang den Reisenden doch noch die Flucht, sie kletterten in ihr Geschoss zurück, kippten es von einem Felsvorsprung in den Abgrund und fielen auf die Erde zurück. Sie landeten im Ozean, ertranken aber nicht, sondern tauchten wieder auf und wurden von einem Schiff ans Ufer geschleppt. Das Orchester intonierte grundlos «Heil dir im Siegerkranz», und dann gingen die Lichter wieder an, und das Wunder war vorbei.
    Irgendwie müssen wir nach Hause gekommen sein. Bestimmt war Mama wach geblieben. Ganz bestimmt hat sie meinem Großvater Vorwürfe gemacht. «Weißt du, wie spät es ist, der Junge muss morgen wieder zur Schule, und wie er nach Rauch stinkt, das ist ja ekelhaft.» Bestimmt habe ich von meinen Erlebnissen berichten wollen und durfte es nicht mehr. «Morgen ist Zeit genug, jetzt wird erst einmal geschlafen.» Vielleicht bin ich vor Aufregung wach gelegen.Oder ich habe geträumt. Von Mondmenschen und von Salmmayonnaise und von einem Mann ohne Arme.
    Von all dem weiß ich nichts mehr. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig war nur eins: Ich hatte meinen ersten Film gesehen.
     
    Ich weiß nicht, wie lang ich schon hier sitze und nachzudenken versuche. Nicht so lang, wie es mir vorkommt. Das Fenster steht offen, aber ich höre niemanden scheißen. Der alte Turkavka, der Klowache hat, sagt für einmal nicht den immer gleichen Text auf, aus dem seine ganze Rolle besteht: «Bitte saubermachen. Bitte saubermachen. Bitte saubermachen.» Alles ist still.
    Die Leute müssen noch bei der Arbeit sein.
    Warum kann ich mich nicht in eine Werkstatt einteilen lassen wie alle anderen? In die Schreinerei oder die Kartonage? Hingehen, Anweisungen bekommen, ausführen. Es wäre alles soviel einfacher. Glimmer spalten oder in der Wäscherei Leintücher falten. Irgendetwas. Nur nicht

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