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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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wenn, wenn – dann werde ich lachen über L 3–24 . «In dem Bordell, wo unser Haushalt war», werde ich singen. Die Details alle nur noch lächerlich finden.
    Wenn ich es überlebe, wird Theresienstadt eine Anekdote werden. Wie überhaupt jedes Leben irgendwann zur Anekdote einschrumpft.
     
    Die immer gleichen Jugendgeschichten, hundertmal erzählt, bis sie, ein abgenudelter Revuesketch, aus lauter Pointen bestehen. Mit dem, was wirklich passiert ist, haben sie dann schon lang nichts mehr zu tun. Eine zerkratzte, zu oft vorgeführte Kopie. «So war es», sagt man, aber so war es nicht. So ähnlich vielleicht. Bestenfalls.
    Und dann sind da die anderen Geschichten, die eine andere Geschichte, über die man nicht spricht, und die man schon deshalb nie vergessen kann.
    Aber sonst? Bruchstücke. Gedächtnisscherben. Mosaiksteine, die sich zu keinem Bild mehr zusammensetzen lassen.
    Der Geruch von Bratkartoffeln, wenn man an der Tür der Portierswohnung vorbeigeht. Heitzendorff, der in unserer Küche etwas repariert; der Schweißfleck auf seinem Unterhemd eine Landkarte mit wachsenden Kontinenten. Mein Kuscheltier, ein Löwe, dessen Fell immer fadenscheiniger wird, bis er irgendwann nicht mehr zu reparieren ist und ich ihn im Tiergarten unter einem Haufen Herbstlaub begrabe. Eine tote Taube. Die erste Pointe, die ich lerne: Müde bin ich, Känguru. Der Fuhrkutscher, der an einer Kreuzung auf seinenerschöpften Gaul einprügelt. Die Mondfinsternis von 1906, wie wir alle in den Himmel starren, bis dann im entscheidenden Moment dicke Wolken aufziehen. Dr. Bellinger, der uns im Physikzimmer den elastischen Stoß demonstrieren will und sich dabei die Hand verstaucht. Der ist dumm, der bei sum setzet das Adverbium. Der erste Zeppelin über der Stadt und mein Neid auf Kalle, der zum Tegeler Schießplatz hinausfahren darf und die Landung miterlebt. Der Drachen, den ich zum Geburtstag bekomme, und der gleich am ersten Tag in einem Baum hängenbleibt. Die Mutprobe, einen Regenwurm zu schlucken, und wie ich mich davor drücke. Ein Feuerwerk, das mich schreiend aus dem Schlaf auffahren lässt, und Mama, die sagt: «Das ist das neue Jahrhundert.» Und schon hier weiß ich nicht zu unterscheiden, ob ich mich an das Aufwachen erinnere – ich wäre noch nicht mal drei Jahre alt gewesen – oder nur an die Erzählung davon.
    Das war meine Jugend. Mehr war da nicht.
    Viel zu wenige Erinnerungen an meine Mutter. Ich bringe nicht einmal mehr ihr Gesicht zusammen. Nur ein paar Äußerlichkeiten. Wie sie sich beim Husten die geballte Hand vor den Mund hielt, so dass es aussah, als ob sie einen Kirschkern diskret ausspucken wolle. Die gestärkten weißen Blusen, die sie zu offiziellen Anlässen trug; man durfte ihr dann nicht zu nahe kommen, und wenn man es trotzdem tat, knisterte sie. Dass sie sich das Wort Conférencier nicht merken konnte oder wollte und stattdessen Konferenzer sagte. Aber das war dann schon später, nach dem Krieg.
    «Ich erinnere mich», sagt man, aber das stimmt nicht. Nicht wirklich. Wir setzen uns etwas zusammen, ein Schnitt hier, eine Abblende dort, und schreiben jede Szene so oft um, bis sie in unser Drehbuch passt. Was wir im Gedächtnis behalten, hat mit dem wirklich Erlebten nicht mehr zu tun als eine Theaterkritik mit der Aufführung, die sie beschreibt. Wir sind keine objektiven Berichterstatter.
    Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Ganz wörtlich. Wenn das Stück einmal abgespielt ist, bleibt nichts anderes übrig. Nur die Kritiken, die man schon immer mal ordentlich sortieren wollte, aberman ist nie dazu gekommen. Und wenn man die vergilbten Seiten doch einmal aus ihrem Pappkarton holt, dann ist in ihnen meistens nur von den Hauptrollen die Rede, und alles andere läuft unter Ferner wirkten mit .
    Ferner wirkten mit: Dienstmädchen, Köchinnen und anderes Personal. Ich kann mich an keinen einzigen Namen erinnern. Sie trugen weiße Schürzen und nannten Mama «Gnädige Frau». Ich wollte immer wissen, warum sie Papa nicht, wie es doch konsequent gewesen wäre, mit «Gnädiger Herr» anredeten, sondern mit «Herr Gerson». Wenn es darauf eine Antwort gab, habe ich sie vergessen.
    Ferner wirkten mit: Ein Ensemble von Lehrerdarstellern. Die üblichen Typen, nichts Besonderes. In einem Film hätte ich sie auch nicht anders besetzt. Ein paar Einzelmasken darunter: der listenreiche Oberstudiendirektor mit seinem Theodor-Herzl-Bart; Dr. Bellinger, dessen naturwissenschaftliche Experimente so selten

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