Gerron - Lewinsky, C: Gerron
genossen hatte. Ich habe denn auch mein ganzes Leben lang keine Süßigkeit mehr geliebt als Nougat.
Noch etwas, das ich nie wieder bekommen werde.
Um die Standpauke, die ich mir verdient hatte, kam ich herum. Meine Eltern waren zu glücklich, mich gesund wiederbekommen zu haben. Nur dass er meinetwegen schon die Polizei alarmiert hatte und den Alarm dann wieder zurücknehmen musste, das ärgerte Papa. Es ließ ihn unvernünftig erscheinen, und unvernünftig wollte er auf keinen Fall sein.
«Wie bist du bloß auf eine so verrückte Idee gekommen?», fragte Mama. Ich habe ihr erst viel später verraten, dass eine Geschichte ihres Vaters daran schuld war.
In Theresienstadt kann man sich nicht verlaufen. Wir kennen jede Ecke unserer Gefängniszelle. Sind alle an derselben Bahnstation angekommen. Wissen genau, wie viele Schritte es von dort zur Schleuse in der Hamburger Kaserne sind. Oder dass man bei der Hannover Kaserne am frühen Morgen das frische Brot aus der Zentralbäckerei riechen kann. Gleich daneben, bei der Magdeburger, wo der Ältestenrat seinen Sitz hat, kann man manchmal sogar richtigen Kaffee erschnuppern. Und, wenn man den Ghetto-Gerüchten Glauben schenken darf, noch ganz andere Köstlichkeiten. Beim Oberen Wassertor, das wie alle Tore in Theresienstadt kein Durchgang ist, sondern eine Sperre, riecht es dann schon nach den Desinfektionsmitteln aus der Krankenstation in der Hohenelber. Man geht am Unteren Wassertor vorbei, von dem die Straße bis Prag führt – rein theoretisch, denn für uns führen Straßen nirgendwo hin – und muss schon wieder nach links abbiegen, an der Dresdner, der Bodenbacher und der Aussiger Kaserne vorbei. Dann hat man Theresienstadt schon fast umrundet. Es fehlt nur noch das letztekurze Wegstück: geradeaus zurück zur Bahnstation. Wo die Züge nicht nur ankommen, sondern auch abfahren. Der Weg, den jeder früher oder später geht.
Nein, man kann sich in Theresienstadt nicht verlaufen. Hier ist alles mit militärischer Präzision angelegt. Wie sich das für eine Festung gehört. Die Straßen im rechten Winkel angeordnet. Fünfzehn Straßen.
L 1 . L 2 . L 3 . L 4 . L 5 . L 6 . L wie Längsstraße.
Und in der andern Richtung: Q wie Querstraße. Q 1 bis Q 9 .
Mehr sind es nicht.
Nur als das Rote Kreuz da war und für den einen Tag alles anders wurde, da haben sie auch die Straßen verkleidet. Haben Namen für sie erfunden und sogar einen Wettbewerb dafür veranstaltet. Bergstraße. Seestraße. Wo wir doch gar keinen Berg und keinen See haben. Wenn wir sie hätten, wäre uns der Zutritt verboten.
L 3–24 , das ist unsere Adresse. Das 24. Haus in der 3 . Längsstraße. Auch bekannt als Geniekaserne. Direkt am Marktplatz, auch wenn wir von der Aussicht nichts haben. Um zu uns zu kommen, geht man in die Kaserne hinein und durch den Hintereingang wieder hinaus. Wenn man dann auf dem Hof steht, dort, wo sie die Latrine gegraben haben, ist links ein kleines Häuschen. Der große Raum im Erdgeschoß ist voller Betten, so kaputt, dass man sie nicht einmal mehr in Theresienstadt verwenden kann. Man darf sie aber auch nicht auseinandernehmen und damit heizen. Irgendwo sind sie registriert, und es könnte jemand auf den Gedanken kommen, sie nachzuzählen. Eine Holztreppe führt in die obere Etage. Die vierte Stufe von unten fehlt. Man muss das wissen, denn in diesem Treppenhaus brennt schon lang kein Licht mehr. Oben sind sechs winzige Zimmerchen. Früher einmal, als hier noch die Österreicher regierten, als es Österreich noch gab, war das Häuschen das Garnisonsbordell, und in den Kammern bedienten die Damen ihre Kunden. Heute sind es Wohnungen. Man muss A-Prominenter sein, um eine davon zu kriegen.
Kumbal heißt das hier. Oder Kumbalek , wenn es besonders klein ist. Ein Zimmer für sich ganz allein.
Wir haben zwei Betten übereinander – nebeneinander hätten sie keinen Platz –, wir haben zwei Stühle und zwei Margarinekisten, die aufeinandergestapelt einen Tisch imitieren. Natürlich, es riecht nicht nach Rosen und Frühlingsflieder. Latrinen stinken nun mal. Aber in Theresienstadt stinkt alles. Man gewöhnt sich. Und zehntausend Menschen beneiden uns um unsere Luxusbehausung.
Wenn Olga recht hat, und der Krieg geht zu Ende, bevor sie auch uns nach Auschwitz transportieren, wenn ich den Film mache und die Arbeiten ein bisschen hinauszögere, nur ein bisschen, so dass sie mir keine Sabotage vorwerfen können, wenn ich Glück habe, wenn ein Wunder geschieht, wenn,
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