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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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wegen des Films, sondern weil ich Rahm widersprochen habe.
    «Du bist verrückt», hat sie gesagt.
    Vielleicht bin ich das. Manchmal tue ich Dinge, für die man Mut haben müsste. Und bin doch gar kein mutiger Mensch. Ich meine nur immer noch – und dabei müsste ich unterdessen wirklich gelernt haben, dass das nicht stimmt –, ich meine nur immer noch, dass man die Dinge beeinflussen kann.
    Sogar bei Rahm.
    «Ich habe drei Tage Zeit», habe ich gesagt, «aber ich weiß jetzt schon, welche Antwort ich ihm geben muss.»
    «Wir wissen es beide», hat Olga gesagt. «‹Ja, Herr Obersturmführer›,heißt deine Antwort. ‹Selbstverständlich, Herr Obersturmführer. Zu Befehl, Herr Obersturmführer.›»
    «Ich kann diesen Film nicht machen.»
    «Man kann alles. Du bist auch in Ellecom aufgetreten.»
    Es war nicht fair, mich daran zu erinnern. Das war der schrecklichste Tag meines Lebens.
    Einer der schrecklichsten Tage.
    Dann haben wir lang geschwiegen. Es tut gut, mit Olga zu schweigen.
    Durch das offene Fenster kam eine Wolke von Gestank. Oder sie war die ganze Zeit schon dagewesen, und ich hatte sie bloß nicht bemerkt. Man gewöhnt sich an alles.
    Man kann alles machen.
    «Nicht diesen Film», habe ich zu Olga gesagt. «Den Rest meines Lebens müsste ich mich dafür schämen.»
    «Wie lang ist der Rest deines Lebens, wenn du dich weigerst?» Sie redet nicht um die Dinge herum.
    «Du würdest mich verachten.»
    «Es gibt schlimmere Dinge als Verachtung.»
    Es gibt immer noch schlimmere Dinge. Die Binsenweisheit unseres Jahrhunderts. Der Weltkrieg? Eine kleine Fingerübung. Ein Staat, der auseinanderfällt? Nur der Bühnenumbau für die wirklich großen Szenen. Die Nazis und all ihre Gesetze? Auch nur zum Warmlaufen. Der Höhepunkt kommt erst noch. Ganz zum Schluss. Wie im Kino. Lass dich überraschen.
    «Wie lang dauert es, bis so ein Film fertig ist?», hat Olga gefragt. «Wirklich ganz fertig?»
    «Drei Monate. Mindestens. Die Dreharbeiten sind das Geringste. Aber vorher muss man ein Buch schreiben und hinterher der Schnitt …»
    «In drei Monaten», hat sie gesagt, «kann der Krieg vorbei sein.»
    «Ich bin nicht der Mensch, der so was kann», habe ich gesagt.
    «Du hast drei Tage.» Olga ist aufgestanden. «Du solltest sie nutzen, um herauszufinden, was für ein Mensch du wirklich bist.»
    Dann hat sie mich allein gelassen.
    Ich. Geboren am 11. Mai 1897 in Berlin. In derselben Wohnung, in der ich dann meine Jugend verbrachte: Klopstockstraße 19, ein paar Häuser vom Bahnhof Tiergarten entfernt. In der Küche, hinten hinaus, konnte man das Rattern und Pfeifen der Stadtbahnzüge hören. Bei starkem Westwind – das war dann immer eine große Aufregung – musste man vor dem Rauch der Lokomotiven die Fenster schließen. Weil sonst das ganze Essen nach Eisenbahn roch.
    Ich nehme an, dass mein Großvater die Wohnung ausgesucht hat. Er wollte seine Tochter auch als verheiratete Frau nahe bei sich haben. Meine Mutter hieß Toni, also Antonia.
    Ihre Eltern, die Rieses, wollten, dass die nächste Generation endgültig den Schritt vom Gutbürgerlichen zum Großbürgerlichen tun sollte. Deshalb stand in unserer Wohnung ein Klavier. Den Versuch, mir die dazugehörige Ausbildung angedeihen zu lassen, gaben meine Eltern bald wieder auf. Ich habe zwar ein gutes Ohr, aber auch zwei linke Hände. Zum Glück kamen sie nie auf den Gedanken, mich stattdessen zu einem Gesangslehrer zu schicken. Mit einer schulmäßigen Ausbildung hätte ich nie Karriere gemacht.
    Mama blieb ihr Leben lang höhere Tochter. Nach der Schule hatte man sie für ein Jahr in ein Pensionat gesteckt, nicht gerade in der Schweiz, das konnte man sich denn doch nicht leisten, aber immerhin in Bad Dürkheim an der Weinstraße. Von dort hatte sie ein fertiges Repertoire an Gesten und Haltungen mitgebracht. Eine Möchtegern-Schauspielerin, die sich von Provinzheroen hat ausbilden lassen. Wenn sie lachte, hielt sie sich die Hand vor den Mund und drehte in gespielter Schamhaftigkeit den Kopf zur Seite; wenn sie Beifall spendete, tat sie das nur mit den Fingerspitzen. Man hatte ihr eingetrichtert, es sei unfein, mit der ganzen Handfläche zu applaudieren.
    Aber die wichtigste Regel, die man ihr fürs Leben beigebracht hatte, war diese: «Männer mögen keine klugen Frauen.» Also versteckte Mama ihre Intelligenz. So wie sie einen Pickel an der Stirn hinter einer geschickt gedrehten Locke hätte verschwinden lassen. Gab sich naiv. Ließ sich nicht anmerken, dass

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