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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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sie Papas lauthalsverkündete Prinzipien nicht wirklich ernst nahm. Die beiden führten eine sehr glückliche Ehe.
    Papa, in einem neumärkischen Mühlendorf namens Kriescht aufgewachsen, war als Sechzehnjähriger nach Berlin gekommen. Ein Exodus, den er so dramatisch zu schildern wusste, als habe er von Haien verseuchte Gewässer durchschwimmen und tief verschneite Gebirge überwinden müssen. Er fand eine Anstellung in der Kleiderfabrik meines Großvaters, Leipziger Straße 72, und heiratete später dessen einzige Tochter.
    Aus Emil Riese, Fabrikation von Neuheiten in Damen- und Kinderfragen, Serviteurs, Blusen, Jupons, Taschentüchern und Schürzen – die Gründungsanzeige hing gerahmt bei uns im Flur, und ich lernte sie auswendig, wie ich alles Geschriebene auswendig lernte – wurde bald Riese & Gerson und irgendwann, als mein Großvater alt wurde, Max Gerson & Cie . Wobei eine Compagnie in Wirklichkeit gar nicht existierte. Aber sie verlieh dem Firmenschild einen imposanteren Charakter.
    Die Firma . Bei uns zu Hause war das ein magischer Begriff. Wenn Papa eines meiner kindlichen Vergehen übermäßig streng bestrafte und ich mich schluchzend bei Mama beschwerte, brauchte sie nur zu sagen: «Er hat eben Ärger in der Firma», und schon war ich zwar nicht getröstet, aber die Ordnung der Welt war doch wieder hergestellt. Es kam auch vor, und wieder hatte es auf geheimnisvolle Weise mit der Firma zu tun, dass Papa mitten in der Woche ein Stück Baumkuchen mit nach Hause brachte. Das musste dann auf der Stelle – mit Schlagsahne! – gegessen werden. Da konnte Mama noch so heftig protestieren, von wegen dem Jungen nur den Appetit verderben. Gegen die Firma kam sie nicht an.
    Das Allerschönste war, wenn ich Papa in die Büros an der Leipziger Straße begleiten durfte. Die eigentlichen Schneiderarbeiten wurden an Zwischenmeister ausgegeben und von einer gesichtslosen Armee von Heimarbeiterinnen im Berliner Norden erledigt, aber eine Treppe höher war das Lager mit den Stoffen und den fertigen Waren. Ein Labyrinth aus Regalen, in dem man wunderbar Verstecken spielen konnte.
    Vielleicht gibt es den Betrieb immer noch. Man vergisst so leicht, dass das Leben weitergeht. Nur: Wenn die Firma noch existiert, heißt sie ganz bestimmt nicht mehr Max Gerson & Cie.
     
    Ich sitze auf einem Schaukelpferd. Ich bin klein und kann den Fußboden nur berühren, wenn ich die Beine strecke. Ich schaukle und schaukle. Mein Pferd rutscht jedes Mal ein kleines bisschen weiter nach vorn, bis es gegen die Wand stößt. Ich komme nicht mehr vorwärts und starre das Hindernis an. Auf der Tapete marschieren Zwerge in Reih und Glied. Statt der Gewehre haben sie Blumen geschultert. Sie machen mir Angst. Ich beginne zu weinen.
    Das ist meine allerfrüheste Erinnerung.
    Irgendwann kommt Mama – aber das ist jetzt keine Erinnerung mehr, das hat man mir so erzählt – und will mich mitsamt meinem hölzernen Pferd umdrehen. Damit ich wieder losreiten kann, quer durchs Kinderzimmer. Ich weine lauter und schlage um mich. Sie darf mein Pferd nicht umdrehen, niemand darf das. Sie darf es nur zurückziehen bis zur andern Seite des Zimmers. Dann schaukle ich wieder los, in dieselbe Richtung wie vorher. Bis ich das nächste Mal vor der Wand stehe. Und anfange zu weinen.
    «Zwanzig Mal am Tag hast du das gemacht.» Wenn Mama die Geschichte erzählte, tippte sie mir jedes Mal mit dem Zeigefinger an die Stirn und sagte: «Du hattest schon immer einen harten Schädel.»
    Als wir Berlin verließen, blieb das Schaukelpferd auf dem Dachboden an der Klopstockstraße zurück. Wahrscheinlich steht es immer noch dort. Ein altgedienter Parteigenosse hat sich die Wohnung geschnappt, und er hat keine Kinder. Unser Portier Heitzendorff. Der auf das doppelte F am Schluss seines Namens so großen Wert legt, dass ihn alle Welt den Effeff nennt. Seine Frau half Mama manchmal beim Reinemachen aus, und es ist leicht vorzustellen, dass sie dieselben Möbel jetzt, wo es ihre eigenen sind, mit noch mehr Sorgfalt abstaubt. Papas Anzüge, die im Schrank hängen blieben, werden dem dicken Effeff allerdings zu eng sein.
    Das Schaukelpferd war alt und sah aus, als sei es nie neu gewesen. Die weiße Farbe ins Gelbliche verblasst. «Gerade darauf kannst du stolz sein», tröstete mich Papa. «Das ist eine besonders vornehme Rasse. Ein Isabellenschimmel.» Und so war ich denn stolz, denn Papa, das glaubte ich damals noch, wusste alles und irrte sich nie.
    Ich erinnere mich nicht

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