Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
Vom Netzwerk:
mehr, warum wir viele Jahre später – ich muss damals schon Pennäler gewesen sein – noch einmal auf das Thema gekommen sind. Mama hatte wohl wieder die alte Geschichte vom Schaukelpferd erzählt.
    «Ich hab dich nicht angelogen», sagte Papa. «Es war tatsächlich ein Isabellenschimmel.» Und holte Meyers Konversations-Lexikon aus der Glasvitrine. In den vielen Bänden, davon war Papa felsenfest überzeugt, ließ sich jede Antwort finden. Wenn man nur die Frage richtig zu stellen wusste. An freien Abenden schmökerte er darin herum wie andere Leute in einem Roman. Jetzt schlug er den Artikel über die spanische Königin Isabella auf, und ich musste ihn laut vorlesen. Papa war nur ein gewöhnlicher Konfektionär, aber er spielte gern den Schulmeister. Die Königin, las ich vor, hatte geschworen, ihr Hemd so lang nicht zu wechseln, bis ihr Gatte irgendeine feindliche Stadt erobert hatte, ich weiß nicht mehr, welche, und als die Mauern endlich fielen, war ihr Hemd nicht mehr weiß, sondern gelb.
    Falsch!, würde ich heute mit roter Tinte an den Rand schreiben. Weiße Hemden, zu lang getragen, werden nicht gelb, sondern grau. Damit kenne ich mich aus.
    Dass ich immer nur in dieselbe Richtung reiten wollte, führte Mama auf meine angeborene Sturheit zurück. Aber das war es nicht. Ich hatte etwas Peinliches zu verstecken. Mein hölzerner Isabellenschimmel war einäugig. Links und rechts an seinem Kopf waren früher einmal die beiden Hälften eines Katzedoniers, wie wir Jungen die schwarz gefleckten Murmeln nannten, aufgeklebt gewesen. Aber das linke Auge hatte mein Schaukelpferd verloren. Das war der Grund, warum ich als Drei- oder Vierjähriger schreiend und um mich schlagend darum kämpfte, dass das Pferd immer nur in dieselbeRichtung galoppierte. Dem Betrachter, darum ging es mir, musste die blinde Seite verborgen bleiben. Sonst hätte jemand merken können, dass es gar kein richtiges Pferd war.
     
    Als Junge war ich ein hoch aufgeschossenes, dünnes Kerlchen. «So schnell wächst nur Unkraut», sagte Papa.
    Es existiert, nein, existierte eine Aufnahme, zu meinem dreizehnten Geburtstag gemacht, da stehe ich im Atelier eines Photographen vor einer kunstvoll gerafften Portiere. Ich kann mich noch an ihre dunkelgrüne Farbe erinnern. Ich trage einen Anzug, meinen allerersten. Wahrscheinlich sollten die neuen langen Hosen ebenso für die Ewigkeit festgehalten werden wie ich selber.
    Unten rechts auf dem Passepartout, der das Bild einfasste, stand in eingeprägten Goldbuchstaben Portrait-Atelier Alphons Tiedeke , Friedrichstraße 78 . Aber es kann nicht Herr Tiedeke selber gewesen sein, der mich photographierte. Ein junger Mann in einem weißen Malerkittel wuselte um mich herum. Ließ mich verschiedene Posen einnehmen und war mit keiner davon zufrieden. Schließlich schleppte er einen Stuhl herbei, von der Art, wie man ihn im Theater aus dem Fundus holt, wenn ein Ritterschloss zu möblieren ist. Auf dessen Seitenlehne sollte ich mich stützen, das sehe dann auf elegante Weise nonchalant aus. Nun war ich aber schon damals, mit dreizehn, so groß gewachsen, dass mein Arm in gerader Haltung nicht bis zur Lehne hinunter reichte. So stehe ich auf dem Bild mit schiefen Schultern da. Zur Seite geneigt, als sei mir etwas aus der Hand gefallen, und ich versuche, unauffällig danach zu tasten. Das Bild stand viele Jahre gerahmt auf Mamas Toilettentisch.
    Noch später nahm sie es mit bis nach Holland. Es steckte auch in ihrem Koffer, als sie dann weitertransportiert wurde.
    Seit jenem Tag wollte ich Photograph werden. Herrn Tiedekes Assistent hatte mich nicht nur durch seine Kleidung beeindruckt – das Ziertuch, das lässig gefaltet aus der Brusttasche seines Malerkittels ragte, war, wie Papa fachkundig bemerkte, aus echter japanischer Seide –, sondern vor allem durch die Tatsache, dass er an mirherumhantieren durfte wie an einer Gliederpuppe. Es war das erste Mal, dass ich so etwas wie Regiearbeit erlebte.
    Ich baute mir selber eine Kamera. Ein Küchenstuhl, an dessen Lehne ein schwarz angemalter Schuhkarton befestigt war. Ein altes Bügeltuch, unter dem ich mich für die Aufnahmen verkroch. Ich war der Hofphotograph Gerson, und mein Klassenkamerad und bester Freund Kalle war seine Majestät der Kaiser, der sich von mir ablichten ließ. Kalle machte bei jedem Spiel mit, das ich mir ausdachte. Solang er darin etwas Vornehmes sein durfte. Einmal, als wir verbotenerweise mit Streichhölzern zündelten, war er der Kaiser Nero

Weitere Kostenlose Bücher