Gerron - Lewinsky, C: Gerron
und sang ganz scheußlich, während ich Rom abfackelte.
Wir bevorzugten Spiele, bei denen es darum ging, sich etwas auszudenken, und vermieden sportlichere Aktivitäten wie Räuber und Gendarm. Mir kamen beim Rennen immer die eigenen, viel zu schnell gewachsenen Gliedmaßen in die Quere. Ich stolperte über mich selber. Kalle hatte es auf der Lunge und war deshalb vom Turnunterricht befreit. Wahrscheinlich wäre er irgendwann an Tuberkulose gestorben. Wenn er dafür lang genug gelebt hätte.
In der Schule hätten wir uns gern ein Pult geteilt. Aber die Sitzordnung richtete sich streng nach den erzielten Noten. Der Platz ganz rechts in der ersten Reihe war für den Primus reserviert, der in unserer Klasse ein netter Kerl und überhaupt kein Streber war. Mein Pult kam irgendwo in der Mitte, und Kalle saß ganz hinten. Seine Versetzung war nicht nur von der Quinta in die Quarta gefährdet; es ging ihm jedes Jahr so. Dass er es doch immer wieder ganz knapp schaffte, hatte mehr mit Mitleid zu tun als mit seinen schulischen Leistungen.
Die Photographiererei verlor ihren Reiz schon bald wieder. Es fielen mir zu wenige Posen ein, in die ich mein Modell noch hätte drapieren können. Kaiser Kalle verlieh mir einen letzten Orden, und dann bauten wir unsere Kamera zum Teleskop um und entdeckten, vom Halleyschen Kometen inspiriert, viele neue Himmelskörper.
Im Rückblick erscheint es mir unglaublich, wie kindlich wir damals noch waren. Und das 1910, nur vier Jahre, bevor wir alle überNacht zu Erwachsenen erklärt und in den Krieg geschickt wurden. Auf der Photographie im neuen Anzug ahne ich noch nichts von dem, was mich erwartet. Schlaksig und dünn stehe ich da. Niemand konnte ahnen, dass ich schon bald sehr dick sein würde.
Überhaupt: Kalle.
Mir kam er ja nicht krank vor. Von Mama, die sich ständig mit ihrem überempfindlichen Magen herumplagte, wusste ich, wie es auszusehen hatte, wenn man nicht gesund war: Man legte sich ins Bett und redete nur noch mit ganz leiser Stimme. Kalle hingegen hatte die lauteste Lache, die ich je erlebt habe. Noch lauter als die des besoffenen Emil Jannings. Ich hörte sie gleich bei unserer ersten Begegnung, als wir beiden frischgebackenen Sextaner schüchtern den Hof des Gymnasiums betraten. Papa hatte mir, weil mein Kopf ja noch wachsen würde, die grün-weiße Schülermütze eine Nummer zu groß gekauft. Da man mir gleichzeitig einen militärisch kurzen Haarschnitt verpasst hatte, rutschte sie mir über die Ohren. Kalle erblickte mich, stutzte und wollte sich dann ausschütten vor Lachen. Was bei ihm mehr als nur eine Floskel war, sondern tatsächlich so aussah. Weil er nach Luft ringen musste und ins Würgen kam. Man hatte bei seinen Heiterkeitsanfällen immer den Eindruck, dass er sich gleich übergeben würde.
Was ihn bei unserer ersten Begegnung so bis zur Atemlosigkeit amüsierte, war nicht mein belämmertes Aussehen, sondern die Tatsache, dass es ihm selber nicht besser erging. Auch sein Vater hatte, aus der genau gleichen vorausschauenden Überlegung, eine zu große Mütze besorgt. Auch ihm hatte man in dem damals üblichen pädagogischen Initiationsritus die Haare kurzgeschoren. Da ich hochgeschossenes Unkraut einen Kopf größer war als er, müssen wir ein wirklich lächerliches Paar abgegeben haben.
Von jenem Tag an waren wir Freunde.
Eigentlich hieß er Karl-Heinz. Als wir in der ersten Stunde für das Klassenbuch unsere Namen angeben mussten, war es ihm wichtig, dass der seine nicht etwa in einem Wort geschrieben würde. UnserKlassenlehrer rief ihn noch das ganze Jahr mit «Bindestrich!» auf.
In Amsterdam habe ich einmal erlebt, dass ein Bindestrich jemandem das Leben rettete. Zumindest vorübergehend. Er stand ohne auf der Liste, und weil er nachweisen konnte, dass das bürokratisch nicht korrekt war, wurde an seiner Stelle jemand anderes verschickt.
Ich kam nie auf den Gedanken, dass Kalles Krankheit etwas Ernsthaftes sein könnte. Nun ja, er hustete, und vom Turnen war er befreit – worum ich ihn beneidete –, aber wir lernten uns in dem Alter kennen, wo einem die Dinge so, wie sie sind, als naturgegeben und unveränderlich erscheinen. Kalle war Kalle, und Kurt war Kurt.
Sein Vater war Privatgelehrter. Ich stellte mir darunter eine Art Doktor Faust vor, der die Nächte im Laboratorium verbringt. Als ich ihn dann kennenlernte, war er nur ein freundlich geistesabwesender Mann, der noch mittags seinen Schlafrock anhatte und beim Lesen nicht gestört werden
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