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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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durfte. Ich habe nie herausgefunden, mit welcher Art von Wissenschaft er sich befasste. Es muss etwas mit Musik zu tun gehabt haben. Einmal erzählte er etwas von geheimen Botschaften, die sich in den Partituren von Johann Sebastian Bach finden ließen. Er war wohl einfach ein harmloser Träumer. Der es sich leisten konnte, ein Leben lang sein Steckenpferd zu reiten.
    In völligem Gegensatz zu meinem erzieherisch übereifrigen Vater erwartete er von seinem Sohn nur eins: möglichst wenige Störungen. Wenn wir in Kalles Zimmer Troja erobern wollten – ich als Achill, Kalle als König Menelaos –, dann besorgten wir uns vorher in der Küche ausreichend Truppenverpflegung und konnten sicher sein, während Stunden nicht unterbrochen zu werden.
    Kalle war der fröhlichste Mensch, den ich je getroffen habe. Sein Lachen war so ansteckend, dass er damit einmal sogar den dicken Effeff entwaffnete, der seine Hauswartspflichten auf militärische Weise ernstnahm. Wir hatten etwas angestellt, ich weiß nicht mehr was, Heitzendorff hatte uns erwischt und drohte mit martialischen Konsequenzen. Worauf Kalle zu kichern begann. Bei jedemanderen hätte der Effeff das als strafverschärfende Majestätsbeleidigung empfunden, aber stattdessen begann sein Dienstschnurrbart zu zucken, und das Unerhörte trat ein: Heitzendorff, der Gestrenge, lachte mit, und wir beiden Lausbuben kamen ungeschoren davon.
    So war Kalle.
    Er lachte dann später auch in unsere Abiturfeier hinein. Fand es zu komisch, dass er, den man all die Jahre nur aus reinem Mitleid durchgeschleppt hatte, tatsächlich bestanden haben sollte. Konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Die ganze schwarz-weiß-rot geschmückte Aula lachte mit. Oberstudiendirektor Dr. Kramm musste seine patriotische Ansprache unterbrechen und sagte tadelnd: «Es hat sich schon mal einer totgelacht.»
    Die einzige Prophezeiung, mit der er recht behalten sollte.
     
    Wenn man wüsste, wenn man ganz sicher wüsste, dass der Film nie zu Ende gedreht wird, oder dass er zu Ende gedreht wird, aber es sieht ihn nie jemand, weil der Krieg vorher vorbei ist … Die Amerikaner, geht das Gerücht, sollen in Frankreich gelandet sein und die Russen schon in Witebsk stehen. Ich habe mit den andern gejubelt, ganz vorsichtig und leise gejubelt, als man es mir erzählte, und erst hinterher gemerkt: Ich weiß gar nicht, wo Witebsk liegt.
    Wenn man ganz sicher wüsste, dass der letzte Akt schon begonnen hat, der nach alter Theaterregel immer der kürzeste ist, wenn man den Vorhangzieher schon sehen könnte, wie er bereitsteht, die Hände am Seil, und nur auf das Zeichen des Inspizienten wartet, wenn es jemanden gäbe, einen Propheten, der einem das garantieren kann, dann wäre es keine Frage, dann würde ich keine drei Tage brauchen, um mich zu entscheiden, dann könnte ich gleich jetzt zu Rahm gehen – als ob da jemand ungerufen hinginge! – und könnte zu ihm sagen: «Aber gern, Herr Obersturmführer», könnte ich sagen, «es wird mir eine Ehre sein», könnte ich sagen, «wie möchten Sie Ihren Film denn gern haben?»
    Wenn man es wüsste.
    Wir haben uns alle als Propheten versucht, all die Jahre, und keiner hat etwas vorausgesehen. «Sie werden sich nicht lang halten», haben wir prophezeit, und als sie sich dann doch hielten: «Sie werden milder werden, jetzt, wo sie an der Macht sind.» Sie wurden aber nicht milder, im Gegenteil, und wir haben geweissagt: «Die anderen Länder werden es nicht zulassen, dass sie einen neuen Krieg anzetteln.» Und haben uns wieder getäuscht. Ein guter Ausdruck, sich täuschen . Man tut es selber und schiebt erst hinterher die Schuld auf andere. Nichts haben wir vorausgesehen, nicht den Blitzkrieg und nicht den gelben Stern und nicht die Viehwaggons, in denen so viel mehr Menschen Platz haben, als außen dransteht. Gar nichts.
    Wenn sich die Propheten wieder täuschen, wenn der Krieg noch ewig weitergeht, wenn sie ihn sogar gewinnen, wenn es die Wunderwaffen wirklich gibt, und niemand hat ein Mittel dagegen, wenn der Film gedreht wird und geschnitten und vorgeführt, in den selben Kinos, in denen meine alten, heute verbotenen Filme liefen, wenn sie eine Galapremiere im Gloria Palast veranstalten, ein Teppich vor dem Eingang und Champagner im Foyer, dann werde ich das höhnische Gelächter bis nach Theresienstadt hören. Wenn auf der Leinwand der Schriftzug erscheint Regie: Kurt Gerron.
    Sie sagen jetzt nicht mehr Regie . Sie sagen Spielleitung .
    «Eine gute Pointe», wird es

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