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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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und ich steh da mit meinem Szepter und kann keinen Text. Ich soll die Situation retten und weiß nicht wie. Das Haus ist ausverkauft. Ich kann die Zuschauer nicht sehen, aber ich spüre, wie sie darauf warten, dass ich das Richtige sage, das Richtige tue. Der Souffleurkasten ist leer, nur ein Metronom steht darin und tickt und tackt. Und dann ist das Ding in meiner Hand kein Szepter mehr, sondern ein Taktstock, und ich will den andern ihren Einsatz geben, aber sie singen nicht, sondern warten darauf, dass ich ganz allein den richtigen Ton finde.
    Dann wache ich auf, und mein Herz schlägt wie verrückt.
    Solche Träume hatte ich auch damals, als ich plötzlich wieder in Berlin war. Zu jener Zeit galt noch die Regel, dass man, wenn man verschüttet gewesen war, Heimaturlaub kriegte. Später, als an allem gespart werden musste, sparten sie auch daran.
    Ich hätte nicht fahren sollen.
    An der Klopstockstraße war ich im falschen Stück. Sollte eine Rolle spielen, die ich nicht studiert hatte. Mehrere Rollen gleichzeitig, und auf keine war ich vorbereitet.
    Papa, immer noch in seiner patriotischen Phase, wollte mich als Kriegshelden haben. Hätte mich am liebsten die Uniform nicht für fünf Minuten ausziehen lassen. Wenn ich mich an den Frühstückstisch setzte, lag dort schon die Vossische bereit, so gefaltet, dass ich als erstes den Heeresbericht lesen musste. Wenn da stand, ein Luftschiff habe eine Bombe auf Paris abgeworfen – auf die Festung Paris , wie das damals hieß –, dann fragte mich Papa ganz kumpelhaft: «Na, Junge, wann werden wir denn nun dort einmarschieren?» «Wir», sagte er. Redete in einem nachgemacht markigen Ton, der überhaupt nicht zu ihm passte.
    Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich pausenlos den wackeren Kämpen geben müssen. Hätte ihn jeden Abend in den Bierkeller begleitet, wo er sich neuerdings regelmäßig mit anderen vaterländischen Konfektionären traf. Dort hätte er seinen Tanzbären dann vorgeführt. «Das ist nun also mein tapferer Sohn», hätte er gesagt. «Er liegt vor Ypern und gibt den Tommies tüchtig Dresche.»
    Er konnte nicht verstehen, dass ich nicht mitkommen wollte.
    Für Mama sollte alles so weitergehen wie vor dem Krieg. Die Umstände hatten ihr ihren kleinen Jungen weggenommen, und wo sie ihn nun wiederhatte, wollte sie ihn verwöhnen. Mit all den Dingen, die kleine Jungen mögen. Zu jeder Mahlzeit setzte sie mir einen Sonntagsnachtisch vor. Am liebsten hätten sie ihn mir Bissen für Bissen eingelöffelt. Ein Wunder, dass sie mir nicht eine zweite Metalleisenbahn gekauft hat.
    Sie meinte es so gut, und ich konnte ihr nicht einmal die Freude machen, mich darüber zu freuen.
    Ich war nicht mehr der Kurt Gerson, der gerade erst sein Notabitur gemacht hatte. Ich war immer noch siebzehn, ja, aber ich war ein anderer geworden. Nicht härter, nicht stärker und schon gar nicht klüger. Ich passte nur nicht mehr ins alte Rollenfach.
    Es wäre besser gewesen, an der Front zu bleiben.
     
    Das Schlimmste war ihre Neugier. So gut gemeint und so unerträglich. «Nun erzähl doch, wie es ist, da draußen! Nun erzähl doch!»
    Was hätte ich erzählen sollen? Dass es eine Liste gab, mehrere Seiten lang, von der wir einfachen Soldaten nichts wissen sollten, die wir aber alle auswendig kannten? In der detailliert aufgeführt war, welche Verletzungen einen für die Front untauglich machten. Die Heimatschussliste. In der nicht nur die offensichtlichen Fälle standen – keine Beine mehr oder blind –, sondern die Finessen, die für uns ja viel wichtiger waren. Dass ein fehlender Finger nicht ausreichte, um aus einem Soldaten wieder einen Zivilisten zu machen. Außer es war der Zeigefinger der rechten Hand. Bei zwei Fingern war von Fall zu Fall zu überprüfen, ob die im täglichen Dienst anfallenden Obliegenheiten ohne größere Beeinträchtigung wahrgenommen werden können. Aber drei Finger zu verlieren, ah, drei Finger, das war der Glückstreffer. Das ganz große Los. Der Tangoschuss. Ich weiß nicht, warum er so genannt wurde. Wohl weil man vor Freude tanzte, wenn die Verletzung ausreichte, um nach Hause zu kommen.
    Hätte ich Papa das erzählen sollen? Wo er doch Heldengeschichten hören wollte?
    Und Mama, die mich mit Süßigkeiten vollstopfte? Hätte ich ihr von dem halben Laib Brot berichten sollen, der sich bei einem Toten noch gefunden hatte, den wir uns teilten, drei gleiche Teile, und nur einen ganz schmalen Rand hatten wir abgeschnitten, dort wo noch Blut an

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