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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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der Kruste klebte? Hätte ich ihr das erzählen sollen?
    Ich hätte ihr nur den Appetit verdorben.
    Die ersten zwei Tage habe ich nur geschwiegen. «Ich bin noch zu müde», habe ich gesagt.
    Aber ich war ein Theatermann, schon damals, auch wenn ich das noch gar nicht wusste. Wenn man mich ohne Textbuch auf eine Bühne stellt, dann improvisiere ich eben. Ich erfand also Geschichten, harmlose kleine Begebenheiten, die nie stattgefunden hatten, oder doch nicht so, wie ich sie schilderte, die aber die Erwartung meiner Zuhörer erfüllten. Wenn sie Boulevard haben wollten, dann sollten sie Boulevard kriegen.
    An eine Figur, die ich mir für sie ausdachte, erinnere ich mich noch. Ein frisch ernannter Feldwebelleutnant, ein komischer Weder-Fisch-noch-Vogel-Charakter, auf halbem Weg zwischen Unteroffizier und Offizier. Diesen Ritter von der traurigen Gestalt, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat, ließ ich über den Degen stolpern, der jetzt zu seiner Paradeuniform gehörte, und an den er sich noch nicht gewöhnt hatte. Führte pantomimisch vor, wie er einem richtigen Leutnant begegnet, den ganz automatisch grüßen will, und wie seine Hand auf halbem Weg zur Mütze stehen bleibt, weil ihm einfällt, dass er das jetzt ja nicht mehr nötig hat.
    Papa lachte schallend, und Mama, die Pensionatstochter, hielt sich die Hand vor den Mund und sagte: «Aber, Kurt!»
    Applaus macht süchtig, und so erfand ich noch mehr harmlose Frontanekdoten. Die Büchse Corned Beef, in einem englischen Graben erbeutet, in der noch eine Kugel steckte, an der sich dann ein Kamerad prompt einen Zahn ausbiss. Die alte Jungfer, die für zwanzig verschiedene Soldaten Pulswärmer gestrickt hatte, und in jedem Paket steckte auch ein Heiratsantrag. Ich war richtig gut. Meine Eltern kauften mir alles ab. Der Krieg, den ich ihnen schilderte, passte zu den Kopf-hoch-Artikeln von all den Alemanns, die für die Zeitungen schrieben.
    Und obwohl ich doch wusste, dass meine Geschichten nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten, ging es mir besser, wenn ich sie erzählte. Ich inszenierte mir die Welt zurecht und saß gleichzeitig als Zuschauer in der eigenen Vorstellung. Genoss das Theater, das ich den anderen vorspielte.
    «Die Leute wollen den Alltag vergessen.» Das war auch in Westerbork die Parole. Der Satz gilt nicht nur für die Unterhaltenen, sondern auch für die Unterhalter. Eine gut erfundene Lüge überzeugt den Lügner ebenso wie den Angelogenen.
    Ich war mein Leben lang ein guter Unterhalter.
     
    Es muss Abend sein. Olga ist für uns beide bei der Essensausgabe gewesen und hat meine Ration vor mir auf die Margarinekisten gestellt. Hat mich kurz angelächelt und ist wieder hinausgegangen, ohne ein Wort zu sagen. Sie will mich beim Nachdenken nicht stören.
    Sie behandelt mich wie einen Kranken. Warum macht mich ihre Rücksicht so ärgerlich?
    Null vier diesmal. Vier Deziliter. Manchmal, an guten Tagen, sind es null fünf.
    Die berühmte Theresienstädter Suppe. Aus Linsenextrakt. Ein ekelhafter Schleim. Etwas anderes haben sie heute nicht ausgegeben.
    Manchmal, wenn man mit seinem Eimerchen von der Essensausgabe kommt, stehen da die alten Leute und fragen: «Essen Sie Ihre Suppe auf? Ich würde sie sonst nehmen, wenn Sie sie nicht mögen.» Sie wissen, dass viele Leute sie nicht runterwürgen können. Es stimmt nicht, dass Hunger der beste Koch ist. Er ist hier nur der einzige.
    Wenn man Glück hat, sind die Zutaten so verkocht, dass man sie nicht erkennt. Wenn man Pech hat, erkennt man sie.
    Aber es ist Suppe, und ich habe Hunger. Mein Körper hat Hunger.
    Von dem Geruch wird mir übel, und gleichzeitig läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Der nervus vagus schickt seine Informationen los. Mein Magen fängt an, Säure zu produzieren. Hunger.
    Suppe.
    Seit ich in Theresienstadt bin, verstehe ich Paul mit seinem Königsberger Rinderfleck. Die Erinnerung an vergangene Köstlichkeiten kann tröstlich sein. Ich phantasiere mich auch manchmal mit Großpapas Salmmayonnaise in den Schlaf. Die einzige Form von Onanie, die mir geblieben ist.
    Es geht nicht nur mir so. Manche Leute verbringen hier Stunden damit, Rezepte für Gerichte zu diskutieren, die ihnen nie mehr jemand kochen wird. Man tauscht sie aus wie wir als Pennäler dieunanständigen französischen Postkarten. Findet sie genauso erregend. Olga hat mir von zwei Frauen erzählt, die haben sich beinahe geprügelt, weil sie sich nicht einig werden konnten, ob an einen gesulzten Karpfen Zucker

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