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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Ansprachen halten, mit Fackeln und Landsknechtstrommeln, dann sagen sie, dass die armen Schweine, die man dort völlig idiotisch in den Tod gejagt hat, vorbildlich zu sterbenverstanden. Schwachsinn. Sie verstanden überhaupt nichts. So wenig wie wir verstanden, warum wir in die große Wurstmaschine geraten waren.
    Dass man sie hinterher heiliggesprochen hat, macht sie auch nicht wieder lebendig. Sie haben nichts mehr davon, dass sie von den Nazis angebetet werden. Irgendwann wird man noch Altäre für sie aufstellen, in jedem Gau einen. An Reliquien ist kein Mangel. Da, wo wir im Felde lagen, ist der Boden bestimmt heute noch voller Knochen.
    Im Felde liegen. Manchmal geht es der Sprache wie der Propaganda, und sie sagt ganz aus Versehen die Wahrheit. Es waren tatsächlich nur Felder, um deren Besitz man sich so verbissen stritt. Rübenäcker. Schwerer flandrischer Lehmboden. Und wir lagen auch tatsächlich. Aufrecht hätte man ein zu gutes Ziel für die Scharfschützen abgegeben. Nicht einmal den Kopf durfte man heben. Wir hatten ja noch keine Stahlhelme. Die kamen erst später. Wir hatten die Lederhaube. Die mit dem Pickel. Der Säbelhiebe ablenken sollte.
    Auf den Bildern von Langemarck tragen sie immer alle Stahlhelme. «Das Publikum erwartet das», hätten sie bei der Ufa gesagt. Wie sich der kleine Moritz die Weltgeschichte vorstellt, so soll sie gefälligst auch sein. Das habe ich einmal so ähnlich irgendwo gelesen, und es stimmt. Wenn man den Krieg mit Bildern hätte ausfechten können, wir hätten ihn gewonnen.
    Wir? Ich gehöre nicht mehr dazu.
    Dabei bin ich einer von den Helden, die Langemarck tatsächlich erobert haben. Seltsam, dass der Herr Goebbels das in seinen Festansprachen nie erwähnt.
     
    Das Wort Kriegskameraden habe ich nie verstanden. Wenn ich in einem Zug sitze, und der entgleist, sind deswegen auch nicht plötzlich alle Passagiere meine Freunde.
    Der Mann, der mir damals am nächsten kam, hieß Paul. Und dann irgendetwas Ostpreußisches. Freunde waren wir auch nicht.
    Er war gleich zu Beginn des Krieges als Reservesoldat eingezogen worden und seither an der Front. Vielleicht dreißig Jahre alt oder auch weniger. Schwer zu sagen. So eine Uniform macht das Alter unscharf. Manche sahen in Feldgrau aus wie verkleidete Schuljungen. Andere wieder, als seien sie auf dem Weg zu einem Veteranentreffen. Von mir aus: dreißig. Es kommt nicht mehr drauf an.
    Ein kräftiger, schwerer Mann. Fast so groß wie ich; und ich war der längste in der Kompanie. Wo ich schlaksig war, war er massiv. Nicht dick, aber seine Klamotten füllte er aus. Auffallend kräftige Hände mit Haarbüscheln auf dem Rücken. Einmal wollte er ein Paar Lederhandschuhe aus einem Liebesgabenpaket anziehen und sprengte die Nähte. Als Pferd hätte er Bierbrauerkutschen gezogen.
    Sein Vater starb, und er bekam Heimaturlaub für das Begräbnis. Als er zu Hause ankam, war der Alte schon im Loch, wie er das nach seiner Rückkehr ganz ohne Sentimentalität formulierte. Aber mit dem Leichenschmaus hatten sie auf ihn gewartet. Davon erzählte er mit der Begeisterung eines Menschen, der allzu lang mit Steckrüben und Graupen gefüttert worden ist.
    Noch bei einem andern Thema ging ihm der Mund über. Ganz ohne Hemmungen berichtete er von den drei Nächten, die er mit seiner Frau verbracht hatte. Sie war, in seiner liebevollen Formulierung, ein strammer Feger. Zum Beweis zeigte er ihre Photographie herum, die er immer bei sich trug. Gemeinsam hatten sie ihr Bestes gegeben, um das in endlosen Kriegsmonaten Versäumte in einer halben Woche nachzuholen. «Außer zum Essen sind wir aus den Federn gar nicht mehr rausgekommen», sagte Paul.
    Wir waren miteinander ins Gespräch gekommen, weil er mich an meinen Vater erinnerte. Nicht äußerlich natürlich; ein größerer Kontrast war kaum vorstellbar. Aber in Pauls Vokabular kamen ein paar Ausdrücke vor, die ich bisher nur zu Hause gehört hatte. Der Leichenschmaus war ambartschig gewesen, und Oberleutnant Backes war ein Glumskopp.
    Ich schließe daraus, dass die Gersons irgendwann einmal von Osten her nach Deutschland eingewandert sein müssen. Aus Russland über Ostpreußen und die Mark Brandenburg nach Berlin. Vonjeder Station haben sie ein paar Ausdrücke mitgenommen. Um ihre private kleine Völkerwanderung dann wieder im Osten zu beenden. Endgültig.
    Paul schloss mich ins Herz, wie er auch ein verlassenes Rehkitz ins Herz geschlossen haben würde. Ohne deswegen gleich zum Vegetarier zu

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