Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Rest von Atemluft.
Einem ganz kleinen Rest.
In Holland habe ich einen Mann aus dem Judenrat gekannt, der wollte sich mit Autoabgasen vergiften, um der Deportation zu entgehen. Man hat ihn, gegen seinen Willen, im letzten Moment gerettet. Er hat uns erzählt, dass er vom Ersticken überhaupt nichts gemerkt habe, sondern in der sorgsam abgedichteten Garage einfach eingeschlafen sei.
In Westerbork, wo ich ihn wieder traf, hat er sich darüber beschwert, dass man dort nie allein war und sich deshalb nicht in Ruhe aufhängen konnte. Hat dann versucht, sich erschießen zu lassen, indem er beim Verladen auf einen der Wachleute losging. Aber der Jüdische Ordnungsdienst war nicht mit Schusswaffen ausgerüstet, und so haben sie ihn nur verprügelt, bevor sie ihn in den Zug packten. Kohlenmonoxid wäre einfacher gewesen.
Ich habe mich mein ganzes Leben lang in allzu beengten Räumen nie mehr wirklich wohl gefühlt. In Bomben auf Monte Carlo gab es diese Szene, wo mich der Albers in einen Verschlag einsperren lässt. Der Regisseur musste mir damals fest versprechen, dass er die Einstellung beim ersten Mal im Kasten haben würde.
Das Schlimmste am Ersticken sind die ersten Minuten. Wenn man sich noch dagegen wehrt. Diese Phase der Panik kommt einem viel länger vor, als sie in Wirklichkeit dauert. Wenn die Luft zu Ende geht, wird der Kopf schwer. Sobald sich genügend Kohlensäure im Blut angesammelt hat, verliert man das Bewusstsein. Im Medizinstudium haben sie uns beigebracht, dass Erstickende an diesem Punkt Halluzinationen haben. Sein ganzes Leben zog an seinen Augen vorbei . Davon habe ich nichts bemerkt. So viel hatte ich bis dahin ja auch noch nicht gelebt.
Dass ich dann doch nicht tot war, oder doch nicht endgültig, habe ich wieder der eigenen Artillerie zu verdanken. Sie hatte sich immer noch nicht auf die richtige Länge eingeschossen, und eine zweite Granate legte unseren Unterstand wieder frei. Teilweise. Die oberste Schicht wurde richtiggehend weggepustet, so dass unsere Köpfe aus der Erde schauten, meiner fast ganz und Pauls bis zur Nase. Sie mussten mit dem Ausbuddeln warten, bis die Batterie den Schusswinkel endlich richtig eingestellt hatte, und dann hat es, wie sie mir sagten, noch einmal sehr lang gedauert, bis sie mich draußen hatten. So fest gepackt war der Lehm. Ich habe davon nichts mitbekommen. Auch nicht, dass ich nach Luft gerungen hätte oder so was. Wenn meine Erinnerung wieder einsetzt, liege ich schon auf der Bahre.
Ich habe nichts Großartiges gedacht. Nichts, was ein Drehbuchschreiber seiner Hauptfigur in den Mund legen würde. Dass ich knapp am Tod vorbeigeschrammt war, machte mich nicht heroischer. Während ich versuchte, mir den Geschmack von Lehm und Sand aus dem Mund zu spülen, dachte ich darüber nach, wie ich meine Uniform in nützlicher Frist wieder sauberkriegen sollte. Wie zu einem neuen Helm kommen. Meiner lag, von der Wucht der zweiten Explosion weggerissen, fast zwanzig Meter vor unseren Gräben im Niemandsland.
Manchmal denke ich, ich hätte etwas zu Paul sagen müssen, solang ich noch Luft hatte. Dass er ein toller Kerl sei oder so etwas. Mein bester Freund. Auch wenn das nicht stimmte. Irgendwas.
Auch wenn er es nicht mehr gehört hätte.
Ich hoffe, dass es wenigstens der Alemann war, dieses Arschloch,der den Brief an seine Angehörigen verfasst hat. Dass er sich für den Paul eine ganz besondere Heldentat hat einfallen lassen. Damit seine Frau, der stramme Feger, stolz auf ihn sein konnte.
Von der Wahrheit hätte sie nichts gehabt. Oder hätte man ihr mitteilen sollen: «Er wurde von der eigenen Artillerie begraben, und sein letzter Gedanke war Königsberger Rinderfleck »?
Vor ein paar Tagen hatte ich einen Albtraum: Ich komme ins Theater, ich bin zu spät dran, die Vorstellung hat schon begonnen. Der Inspizient winkt mich ungeduldig auf die Bühne. Ich bin als Shakespeare-König kostümiert, habe ein Szepter in der Hand und eine Krone auf dem Kopf. Ich trete aus der Kulisse und merke, dass ich im falschen Stück bin. Das Bühnenbild ist das von Wiegenlied , unserer letzten Inszenierung in der Joodsche Schouwburg. Es muss der dritte Akt sein, denn mein Koffer steht da. Der Koffer, mit dem ich abreisen will. Und ich erkenne die Schauspieler. Sie gehören nicht in das Stück. Lauter bekannte Gesichter. Der Werner Krauss ist dabei und die Dorsch und die Hoppe und der Florath und der George. Sind alle pünktlich dagewesen. Sie schauen mich erwartungsvoll an,
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