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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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werden. Er übernahm mich gewissermaßen als Lehrjungen. Wobei er den Krieg und seine vielfältigen Tötungsmethoden ganz sachlich behandelte, ein Handwerk, das man seriös erlernen muss.
    Er erklärte mir beispielsweise, warum das Bajonett im Grabenkampf nicht die ideale Waffe ist. «Wenn der Graben zu eng ist, kann es dir leicht passieren, dass du mit dem Gewehrkolben seitlich an der Wand hängenbleibst und nicht richtig zum Stoß kommst.» Auch vom angeschliffenen Spaten riet er ab, der sei zwar praktisch und meistens tödlich, aber wenn man als Gefangener damit erwischt würde, schnitten sie einem die Kehle durch. Für den Nahkampf war seiner Meinung nach ein ganz simpler mit Stacheldraht umwickelter Stock am besten, so einen müsse man seiner Meinung nach immer zur Hand haben, er reiße tiefe Wunden, «und endgültig erledigen kann den Kerl dann jemand anderes».
    Worauf er wieder zu Schmorkohl mit Hackbällchen überging und von dort zu den körperlichen Vorzügen seiner Frau.
    Wir waren keine Freunde, Paul und ich. Wir saßen nur zufällig im selben entgleisenden Zug.
     
    Paul konnte den Krieg lesen wie ein Landwirt die Natur. Hat manche Wette gewonnen, weil er fast auf die Minute genau vorauszusagen wusste, wann ein tödlich Verwundeter, der im Niemandsland zwischen den Gräben um Hilfe wimmerte, endgültig verstummen würde. Als rechter Landwirt hatte er für alles seine Regeln.
    Im Unterstand, so dozierte er, sollte man sich immer möglichst nahe an der vorderen Wand aufhalten. Auf der Seite, wo die feindlichen Geschosse herkamen. Er machte mir sogar eine Zeichnung, den Querschnitt eines Grabens. Benützte dazu, weil kein anderesPapier zu finden war, die Rückseite des Photos seiner Frau. «So kommt eine Granate geflogen», erklärte er, «immer im Bogen.» Er schraffierte das Dreieck, in dem man seiner Meinung nach am sichersten war. «Entweder schlägt sie vor dir in die Erde ein, und du bist geschützt, oder sie fliegt über dich rüber. Nur die Brummer aus den englischen Stokes kommen fast senkrecht runter.»
    Möglich, dass er mit seiner Theorie recht hatte. Das Geschoss, das unseren Unterstand verschüttete, kam von hinten. Aus einer der neuen Krupp-Kanonen, die, wie die Zeitungen schrieben, den Krieg schon sehr bald zu unseren Gunsten entscheiden würden. Sie hatten halt ein bisschen zu kurz gezielt. Eine kleine Ungenauigkeit, wie sie in der Aufregung schon mal vorkommen kann. Tut uns leid, war nicht so gemeint.
    Die Granate schlug einen Meter hinter unserm Unterstand ein, mit einem Wummern, das man im ganzen Körper spürte. Ich bin sicher, Paul hätte mir das genaue Kaliber nennen können. Wenn sein Mund nicht voller Erde gewesen wäre.
    Die Explosion riss einen Krater in den Boden, tief genug, sagte man mir später, dass man ein Automobil hätte darin versenken können. Der Druck schob die Erde vor sich her, und die Rückwand des Unterstands rollte über uns weg. Die Balken, mit denen die Decke verstärkt war, verloren ihren Halt und stürzten, samt den Sandsäcken, die uns vor Splittern schützen sollten, auf uns herunter. Wir waren acht Mann im Unterstand, als es passierte. Sieben von ihnen waren sofort tot.
    Königsberger Rinderfleck . Davon hatte Paul gerade noch gesprochen. Eine Suppe, die niemand auf der Welt so perfekt zubereitete wie seine Frau. Königsberger Rinderfleck. Mit Majoran. Dann schlug die Granate ein.
    Eine Faust stieß mich in den Rücken und drückte mich gegen Paul. Ich spürte seine Stirn direkt vor meinem Mund. Hätte nur die Lippen spitzen müssen, um ihn zu küssen. Auf die Stelle, auf die Mama tippte, wenn sie sagte: «Du hattest schon immer einen harten Schädel.» Da wo der Engel hintippt, damit man alles vergisst. Genau auf die Stelle.
    Seine Stirn an meinen Lippen.
    Ich versuchte mich von ihm zu lösen, aber ich war in einem flandrischen Acker festgebacken. Eine Rübe, die man zu ernten vergessen hatte. Der Unterstand war bis zur Decke, bis dorthin, wo einmal eine Decke gewesen war, mit klebrigem Lehm angefüllt. Ich saß fest. Das einzige, was ich noch bewegen konnte, waren die Zehen in den Stiefeln. Die Augen konnte ich öffnen und schließen. Nicht dass das in der Finsternis einen Unterschied gemacht hätte.
    Und ich konnte atmen.
    Noch konnte ich atmen.
    Mein Helm, dessen Kinnriemen ich nicht festgezogen hatte, war nach vorn gerutscht und bildete jetzt zwischen meinem Kopf und dem von Paul eine Art schräges Dach. Darunter war ein kleiner freier Raum mit einem

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