Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
Vom Netzwerk:
gehört oder nicht.
    Gesulzter Karpfen. Ich habe das nie gegessen. Papa duldete nichts auf dem Tisch, das ihm allzu judskimäßig schien. Eine Bildungslücke, die sich jetzt nie wieder wird schließen lassen.
    In Westerbork hat Max Ehrlich, der vor keinem Kalauer zurückschreckte, in seiner Conférence gesagt: «Hier im Lager ist eine Rezeptsammlung ein Lehrbuch für den Leerbauch.» Die Leute haben furchtbar gelacht, aber das haben sie dort bei jeder Pointe getan. Es konnte ihre letzte Chance sein, sich zu amüsieren.
    Man müsste, als Gegenstück zu einer Rezeptsammlung, einmal den Hunger kategorisieren. Mit all seinen Unterarten. Vom kleinen Appetit bis zur großen Gier. Von «Ein Häppchen würde ich noch vertragen» bis zu «Wenn ich jetzt nichts zwischen die Zähne kriege, werde ich verrückt.»
    Dr. Springer hat mir von einem Patienten erzählt, der aus lauter Fressgier verhungert ist. Hat Fensterkitt aus dem Rahmen gepult und gefressen. Das Zeug hat ihm die Speiseröhre verklebt.
    Und in Westerbork gab es den Geschäftemacher mit den Ölsardinen. Der hatte einen ganzen Koffer voller Konservendosen ins Lager geschmuggelt und verkaufte sie teuer. Bis dann sein Name auf der Liste für den nächsten Transport stand. Da hat er eine Nacht lang auf seiner Pritsche gesessen und eine Dose nach der andern aufgemacht. Die Sardinen gefressen und das Öl ausgetrunken. Niemandem einen Bissen abgegeben. Gefressen und gekotzt und weiter gefressen. Und sich dann mit der scharfen Kante eines Dosendeckels die Pulsader aufgeschnitten. Es hat ihm nichts genützt. Sie haben ihn einfach mit Verband in den Waggon geschoben.
    Man könnte leicht ein Buch füllen mit solchen Geschichten. Ich würde das Vorwort dazu schreiben. Mit dem Thema kenne ich mich aus.
    Illustrieren könnte man das Ganze mit Fotos von Leuten, die vor Hunger den Verstand verloren haben. Die einen andern totgeschlagenhaben für ein Stück Brot. Ich wüsste da ein paar Beispiele.
    Ich habe Hunger.
    Und da ist Suppe.
     
    Einmal – ich weiß nicht mehr, warum ich an dem Tag nicht dabeigewesen bin – kamen die andern aus dem vordersten Graben zurück. Verdreckt, müde und kaputt. Aber nicht so ausgehungert wie sonst. Da sei ein Verrückter gewesen, erzählten sie, einer von der Verpflegungskompanie, der habe einen Marmeladeeimer voller Suppe bis in die vorderste Linie geschleppt. Mit einer Schürze über der Uniform. Ein Verrückter eben. Das Feuer nicht so heftig wie an andern Tagen, aber trotzdem. Mit seinem Eimer durch alle Gräben. Wo er doch ganz gemütlich bei seiner Feldküche hätte bleiben können. Weitab vom Schuss.
    Seine Schürze habe er sich über den Arm gelegt wie eine Serviette und ihnen ihre Essgeschirre vollgeschöpft. Eine richtige Suppe, keine blinde, wie wir das damals nannten, wenn sich weit und breit kein Fettauge finden ließ. Gelacht habe er dabei, gelacht und gehustet. Sie hätten ihn noch gehört, als er schon wieder auf dem Rückweg war.
    Er habe nach mir gefragt, der Verrückte. Ob sie nicht einen Kurt Gerson hätten, so einen langen, dürren. Das sei ein Freund von ihm.
    Kalle.
    Ich fand ihn bei seiner Gulaschkanone. Sie hatten ein Zelt darübergespannt, mit einem Loch für den Kamin. Der tatsächlich aussah wie ein auf den Himmel gerichtetes Kanonenrohr. Auf die seitliche Plane hatte jemand mit Ölfarbe ein kronengeschmücktes Wappen gemalt. Drei ineinander verschlungene K’s. König Kalles Küche sollte das heißen . Er spielte noch immer gern die aristokratischen Rollen.
    In seinem Drillichzeug mit der weißen Schürze sah er aus wie schlecht verkleidet. Eine Kelle, so groß, dass sie fast schon ein Ruder war. Er präsentierte sie vor mir wie ein Gewehr auf dem Exerzierplatz.Wie in einer unserer Schuljungenphantasien. Was wollen wir heute spielen? Die Entdeckung Amerikas? Stanley und Livingstone in Afrika? Oder doch lieber Westfront?
    Wir umarmten uns nicht, klopften uns nicht einmal die Schultern wund, wie es Männer sonst gern tun. Männer? Wir waren noch keine Männer. Gefühle zu zeigen war nie mein Rollenfach. Kalle fragte auch nicht, wie es mir ergangen sei. Wir waren beide noch am Leben. Alles andere war in dieser Zeit nicht wichtig.
    An der Küchenfront gab es keine Toten, und so fiel ihm das Erzählen leichter als mir. Als ob wir uns nach den großen Ferien auf dem Schulhof träfen, und er müsste mir ganz dringend all seine Erlebnisse aus der Sommerfrische berichten. Weil er Kalle war und das Lachen so sehr liebte, waren

Weitere Kostenlose Bücher