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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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leeren Jackettärmel. Wir waren nicht befreundet. Freundschaft ist etwas anderes. Wir hatten Ähnliches erlebt, und deshalb verstanden wir uns.
    Nicht dass wir groß über unsere Erfahrungen gesprochen hätten. Ich sagte «Ypern», er sagte «Dünaburg», und mehr gab es nicht zu reden. Jeder hatte an seinen eigenen Albträumen genug.
    Ich weiß nicht einmal mehr seinen Vornamen. Wenn ich ihn je gekannt habe. Wie wir uns das im Militär angewöhnt hatten, war ich der Gerson, und er war der Thalmann.
    Und auch diesen Namen hätte ich längst vergessen, wenn er nicht später in meinem Leben noch einmal sehr wichtig geworden wäre. Als er in Hamburg schon seine eigene Praxis hatte, leistete er mir – ohne es zu wissen – den wichtigsten Dienst meines Lebens. Ich werde ihm ewig dafür dankbar sein.
     
    Ich studierte. Ging ins Theater. Und fraß.
    Auch in diesem Punkt unterschied ich mich vom Schüler Kurt Gerson. Der war immer ein schlechter Esser gewesen. Ein leckermäuliger Tellerpicker, wie Mama das vorwurfsvoll nannte.
    Wenn etwas besonders Gutes auf den Tisch kam – ah, die Salmmayonnaise damals mit Großpapa! –, ließ mein Appetit nichts zu wünschen übrig. Aber wenn es nur nackte Nudeln gab oder langweilige Kartoffelbällchen, dann konnte ich mein Essen eine halbe Stunde lang auf dem Teller hin und her schieben. Bis alles kalt war und noch viel weniger schmeckte.
    Einmal – ich muss damals knapp zur Schule gegangen sein – probierte es Papa mit drakonischen Maßnahmen. Er ordnete an, dass mir derselbe Teller immer wieder vorgesetzt würde, wenn nötig auch noch am nächsten Tag zum Frühstück, bis er leer gegessen sei, ohne Überreste, das wäre ja ambartschig, wenn man dem Jungen nicht anständige Tischmanieren beibringen könnte. In den paar Wochen, in denen wir beide das durchhielten, wurde ich noch spilleriger, als ich es ohnehin schon war. Als dann Dr. Rosenblum begann, von Unterernährung und Anämie zu orakeln, musste das Erziehungsexperiment erfolglos abgebrochen werden.
    Das war in der Zeit des alten, dünnen Kurt Gerson. Der neue, aus dem Lazarett entlassene, aß jeden Teller leer, den man ihm hinstellte, und bat noch um Nachschlag. Mama war von meinem neu gefundenen Appetit begeistert. Jetzt konnte sie mir ihre Liebe, die sie sonst nicht zu zeigen wusste, wenigstens auf dem Teller beweisen. «Der arme Junge hat im Felde nicht richtig zu essen gekriegt», sagte sie und tat alles, um mich das Versäumte nachholen zu lassen. Was wegen der Lebensmittelrationierung nicht einfach war. Manchmal, wenn ich ein Lehrbuch aufschlug, fiel zwischen zwei Seiten eine Brotmarke heraus, die sie sich abgespart hatte, «damit sich der arme Junge mal was kaufen kann». In der Mensa der Universität gab es belegte Brote, nur mit Margarine und Schnittlauch. So richtige Arme-Leute-Stullen, die aber ebenso patriotisch wie lächerlich Siegschnitten genannt wurden. Früher hätte ich so etwas nicht angefasst, da hätte schon kalter Braten drauf sein müssen oderfingerdick Käse. Jetzt schlang ich sie in mich rein und vergaß vor lauter Gier das Kauen.
    Denn ich hatte Hunger. Immer und pausenlos. Das war kein vorübergehendes Nachholbedürfnis, das war ein neuer Dauerzustand, der zu dem veränderten Kurt Gerson gehörte. So wie andere Leute chronische Migräne haben oder Plattfüße.
    Ich hatte Hunger.
    Hatte? Ich habe Olga angelogen. Ich habe Hunger. Aber jetzt ist das nichts mehr Besonderes. Jetzt unterscheidet mich die pausenlose Gier nach Essbarem nicht mehr von anderen Menschen. Hunger ist eine Selbstverständlichkeit geworden. Das Alltäglichste vom Alltäglichen. Die Sonne scheint, der Regen fällt, der Magen knurrt.
    Damals war das anders. Am Anfang nicht einmal unangenehm, nicht wirklich. Es gab ja zu essen. Mama freute sich, wenn ich tüchtig zulangte. Aber mein Hunger ließ sich nicht stillen. Verlangte nach mehr und mehr. Schon eine halbe Stunde nach einer reichlichen Mahlzeit zog mich die Speisekammer unwiderstehlich an.
    Ich nahm immer mehr zu. Achtzehn Jahre lang war ich der Stangenspargel gewesen. Das hochgeschossene Unkraut. Der wandelnde Zaunpfahl. Jetzt begann sich mein Körper zu verändern. Wurde aber nicht kräftiger, sondern nur dick. Wenn ich ein altes Jackett anzog, musste ich es offen tragen. Hosen, die mir immer gepasst hatten, ließen sich nicht mehr zuknöpfen. An und für sich noch kein Problem. Man war Gerson & Cie. Da gab es genügend Frauen, die mir die Sachen weiter machen konnten. Aber

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