Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky

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Lehrbuch stand: «Die Länge des menschlichen Darms liegt zwischen der eines Pflanzen- und der eines Fleischfressers. Daraus lässt sich schließen, dass homo sapiens ein Allesfresser ist.» In Theresienstadt liefert man dafür jeden Tag den experimentellen Beweis. Wenn der Mensch genügend Hunger hat, frisst er alles.
    Musculus levator labii superioris. Musculus depressor labii inferioris.
    Einmal hatten wir an einem abgetrennten Bein die Sehnen freipräpariert. Wenn man an einer davon zog, bewegte sich der große Zeh. Wir fanden das alle sehr komisch.
    Musculus levator labii superioris alaeque nasi.
    In den vier Semestern, bevor ich wieder zum Militärdienst eingezogen wurde, kamen lebende Patienten nicht vor. Das erleichterte das Medizinstudium ungemein.
    Musculus levator anguli oris. Modiolus anguli oris.
    Um die Arbeit mit dem Stethoskop zu üben, standen wir uns mit nackten Oberkörpern gegenüber und auskultierten uns gegenseitig. Die Damen gingen dafür in ein eigenes Zimmer. Ich spielte den Schwerenöter und fragte, ob sie sich im Sinn der Gleichberechtigung nicht lieber bei uns beteiligen wollten. Allgemeines Gejohle. Ich wurde in der Rolle immer besser.
    Musculus buccinator. Musculus mentalis.
    Ich weiß sie immer noch auswendig, die Lachmuskeln.

    Wenn ich nicht in einer Vorlesung war oder zu Hause büffelte, ging ich ins Theater. Nicht aus kulturellem Interesse. Das meinte nur Mama und war stolz auf ihren Sohn. Meine Theatergier hatte einen ganz anderen, viel simpleren Grund: Zeitvertreib.
    Eine viel bessere Formulierung als die Zeit totschlagen . Weil: Man kriegt sie nicht tot. Man kann sie nur vertreiben, immer wieder neu, wie eine lästige Stechmücke. Mein Leben lang habe ich nichts anderes getan. Habe jede Minute in meinem Terminkalender vollgestopft. Im verrücktesten aller Jahre hat mich die Spira einmal gefragt: «Wann bleibt Ihnen eigentlich Zeit zum Nachdenken, Herr Gerron?» Ich konnte ihr nicht erklären, dass es genau darum ging: keine Zeit zum Nachdenken zu haben.
    Im Theater habe ich immer die Stücke geliebt, in denen etwas passierte. Wo etwas los war. Wo man von der Handlung überwältigt wurde oder von den Effekten. Wo der Kopf nicht abschweifen konnte und doch wieder dort landen, wo man nicht sein wollte. Habe immer nach dem Rollschuh laufenden Bären gesucht.
    Die diskreten, leisen, intellektuellen Schauspieler konnten mich nie begeistern. Als in den Zwanzigern die Neue Sachlichkeit aufkam, und sie alle nur noch so auffällig unauffällig ihre Sätze fallen ließen und pausenlos unausstehlich feinsinnig waren, da habe ich die Premieren geschwänzt. Bin lieber zu Grock gegangen und habe mich gekugelt, wenn er ein rosarotes Korsett aus dem Klavier fischte. Ein Schauspieler – ich meine damit nicht meine eigene Postur – hat gefälligst überlebensgroß zu sein.
    Ich werde nie vergessen, wie ich zum ersten Mal den Jannings sah. Er gab an der Volksbühne einen der Schillerschen Räuber, keine Hauptrolle, sondern im Grunde eine Wurzen, aber er spielte alle an die Wand. Und es war nicht etwa eine schlecht besetzte Inszenierung. So was gab es bei Reinhardt nicht. Wenn ich mich recht erinnere, spielte Wegener den Franz Moor. Aber für mich existierte auf dieser Bühne nur der Jannings. Wie alt kann er damals gewesen sein? Knappe dreißig, schätze ich. Noch nicht der ganz große Star. Aber er hat einem im Zuschauerraum keine Luft zum Atmen gelassen. So muss ein Schauspieler sein.
    Später, als wir befreundet waren – soweit man mit einem Egomanen wie Jannings befreundet sein konnte –, haben wir herausgefunden, dass ich ihn doch schon früher einmal gesehen haben muss. In einem der unsäglichen Hurra-Filmchen, wie man sie in der ersten Begeisterung von 1914 produzierte. Ein zehnjähriger Kriegsheld oder so was Ähnliches. Ich erinnere mich lieber an Die Räuber .
    Was die Bühne anbelangte, war ich ein Allesfresser. Homo omnivorus mit acht Meter langem Darm. Ob Schiller oder Schönthan, für mich spielte das keine Rolle. Solang ich nur von mir selber abgelenkt wurde. Ich ging auch oft ins Variété. Obwohl der Wintergarten , an den ich so selige Erinnerungen hatte, in jener Zeit eine einzige Enttäuschung war. Sie spielten nur noch patriotische Revuen, die Girls schwenkten in friderizianischen Uniformen die Beine, und noch der letzte Bumskomiker fühlte sich verpflichtet, ein Hoch auf die tapferen Soldaten auszubringen. Zum Kotzen.
    Manchmal begleitete mich Thalmann, der Mann mit dem