Gerron - Lewinsky, C: Gerron
auch die tüchtigste Schneiderin bringt ein ausgeleiertes Gesicht nicht wieder zum Passen.
Ich sah nicht mehr aus, wie ich ausgesehen hatte. Mit dem Dreizehnjährigen aus dem Photo auf Mamas Toilettentisch war ich nicht einmal mehr verwandt. Nicht dass ich vorher ein Adonis gewesen wäre, so eitel war ich nicht, aber das Gesicht, das mich jetzt jeden Tag beim Rasieren aus dem Spiegel anschaute, gefiel mir überhaupt nicht. Es quoll immer mehr auf. Ein Kuchenteig, der zuviel Hefe abbekommen hat. Ein weichliches, aufgedunsenes Hamsterbackengesicht,hinter dem ich mich kaum noch selber wiedererkannte.
Ich wurde fett. Ich wollte nicht fett sein.
Früher wäre ich mit dem Problem zu Dr. Rosenblum gegangen. Jetzt war ich Medizinstudent, und in der Universitätsbibliothek standen genügend Bücher. Ich fand die Lösung des Rätsels in einem Grundriss der Endokrinologie . Sie war ganz einfach. Ich hätte auch ohne Lehrbuch darauf kommen können.
Wenn es jemanden gibt, der sich unser Schicksal ausdenkt, wenn da irgendwo auf einer Wolke so ein himmlischer Dramaturg sitzt und Lebensgeschichten in seine Schreibmaschine hämmert, dann muss der Kerl permanent besoffen sein. Oder er hat einen verdammt bösartigen Humor.
Einen Handlungskniff liebt er besonders. Er erfüllt seinen Figuren all ihre Wünsche, das hinterhältige Schwein, lässt ihnen scheinbar Gutes passieren. Nur um sie dann genau damit fürchterlich auf die Schnauze fallen zu lassen. Es tut dann mehr weh. Oft lässt er sich eine Menge Zeit, bis er die Sprengladung zündet. Macht seine Sache gründlich. Wiegt seine Charaktere in Sicherheit, bevor er ihnen den Teppich unter den Füßen wegzieht. Es eilt ihm nicht. So eine Lebensgeschichte ist ja nicht auf Kinolänge beschränkt. Er kann warten. Bis der Zuschauer ganz sicher ist: Diesmal nimmt es ein glückliches Ende. Erst dann – waff! – schlägt er zu.
Und lacht sich schief und ist furchtbar stolz auf seinen Einfall.
Vielleicht ist es ja nicht nur einer, vielleicht sind es viele, vielleicht hat jeder Mensch seinen eigenen Drehbuchschreiber, vielleicht hocken sie jeden Abend zusammen, bei Nektar und Ambrosia, und schneiden auf, wie toll sie wieder die dramaturgische Kurve gekriegt haben. Prahlen mit ihren neusten Geschichten. Wollen sich gegenseitig übertrumpfen. Lauter kleine Alemanns.
Sie haben ihre Moden, natürlich. Drehbuchschreiber sind Herdentiere.
Wie damals im Mittelalter, als sie alle die Pest ganz prima fanden.War ja auch ein fetziger Titel. Der schwarze Tod , das sieht gut aus überm Kinoeingang. Für ihre Handlungsgemeinheiten war das Thema bestens geeignet. Man musste sich dramaturgisch nicht groß verrenken, um seine Helden in die Scheiße zu reiten. Ließ ein Liebespaar nach den üblichen Verwicklungen so feierlich zum Traualtar marschieren, dass jeder Kinopianist gleich im Hochzeitsmarsch herumtremolierte, und dann wartete da – Überraschung! – nicht der liebe Herr Pfarrer, sondern der Sensenmann. Zum Totlachen.
Es gibt ein Problem, wenn man erfolgreich bleiben will als Lebensgeschichtenerfinder: Auch die besten Effekte nutzen sich ab. Die Zuschauer denken mit und wissen immer schon, was kommt. Dann gähnen sie nur noch. Man muss sich dauernd steigern. Zehn Tote, hundert Tote, tausend Tote. Wie damals, als das mit dem Tonfilm anfing. Da freuten sich die Leute noch, wenn man ihnen sechs Girls hinstellte. Jetzt müssen es schon vierundzwanzig sein oder achtundvierzig.
Irgendwann ist jedes Thema abgenagt bis auf die Knochen. Aber sie sind einfallsreich, die himmlischen Schicksalsdramaturgen. Wenn die Pest nicht mehr zieht, erfinden sie eben den Dreißigjährigen Krieg. Oder die Nazis.
Das meiste ist natürlich Massenware. Ein Dutzend Leute im selben Flugzeugabsturz. Aber manchmal geben sie sich Mühe. Vielleicht ist ja ein Preis für die originellste Bösartigkeit ausgesetzt. Vielleicht heißt der liebe Gott Hugenberg.
Wer immer meine Lebensgeschichte erfunden hat, ist ein mieses Arschloch. Aber eine gewisse Kreativität kann man ihm nicht absprechen. Nur schon wegen der Sache mit meinem Appetit. Da muss man erst mal drauf kommen. Erst mit einem Trick dafür sorgen, dass der Hauptdarsteller permanent Hunger hat, und ihn dann in eine Situation bringen, wo es nichts zu fressen gibt. Zum Kugeln. Ein bisschen viel Aufwand für den Effekt, finde ich. Musste es gleich Westerbork und Theresienstadt sein, nur um mich zur Sau zu machen? Das hätte man auch eleganter lösen können. Aber er
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