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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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lagen jetzt dort, wo früher Frauen ihre Kinder geboren hatten. Möglich, dass auch mal einer drunter war, der am gleichen Ort das Licht der Welt erblickt hatte. Den zynischen Schicksalsausdenkern da oben auf ihrer Wolke wäre es zuzutrauen gewesen.
     
    Beim Auswendiglernen von Knochen und Muskeln war ich Spitze gewesen. Musculus zygomaticus major . Musculus zygomaticus minor. Für die praktische Medizin, das zeigte sich in Kolmar schnell, war ich völlig ungeeignet.
    Damals bei der Dreigroschenoper , als die Neher endgültig ausgestiegen war, eine Woche vor der Premiere, schleppte der Aufricht in seiner Verzweiflung eine blassgeschminkte Rothaarige an, von dem Typus, der vierundzwanzig Stunden am Tag auf interessant macht. Keine Ahnung, wo er die aufgegabelt hatte. Oder sie ihn. Man wusste in Berlin, dass er einen reichen Vater hatte. Er habe da ein Naturtalent entdeckt, verkündete er ganz stolz, zwar noch ohne jede Erfahrung, aber dafür ungeheuer begabt, und die solle jetzt die Polly spielen. Begeistert war niemand von der Idee, aber der Aufricht war nun mal der Direktor und finanzierte das Ganze. Wir haben also tatsächlich eine Szene mit ihr probiert. Bis sie auf die Bühne rausmusste, war sie kess wie Oskar, aber ein Schritt aus der Kulisse, und das Naturtalent bestand nur noch aus Ellbogen. Wusste sich nicht mehr zu bewegen. Statt Text zu sprechen, piepte sie rum wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Ich weiß nicht, ob der Aufricht sie trotzdem ins Bett gekriegt hat; die Rolle bekam sie auf jeden Fall nicht.
    Ungefähr so war ich als Arzt. Theoretisch wusste ich eine Menge,aber wenn ich es anwenden sollte, nützten mir alle Lehrbücher nichts mehr. Man kann sich unter dem Mikroskop eine Million Blutkörperchen angesehen haben. Das hilft nicht weiter, wenn es hellrot aus der Arterie spritzt.
    Dazu kam mein angeborenes Ungeschick. Ein Glumskopp war ich schon immer gewesen. Aus zwei linken Händen werden keine Chirurgenfinger, bloß weil man ohne zu stottern articulatio femoropatellaris sagen kann. Ich versagte schon bei den einfachsten Aufgaben. Wenn ich die Metallsplitter aus einem zerschossenen Bein entfernen sollte, stocherte ich so tollpatschig in der Wunde herum, dass jeder Krankenträger es besser gemacht hätte. Und auch besser machte. Da war einer, Klempner im Zivilberuf, der sagte manchmal: «Lassense mich mal, Herr Dokter.» Ich war ihm dankbar dafür.
    Nicht meine Hände waren das größte Problem, sondern mein Kopf. Trotz der Zeit in Flandern hatte ich mir noch nicht diese Trennwand konstruiert, diese innere Glasscheibe, hinter die man sich zurückziehen kann. Mit manchen Dingen wird man nur fertig, wenn man sie so distanziert betrachtet, als wären sie ein Bild vorn auf der Leinwand, und man selber nur der Platzanweiser oder Filmvorführer. Der ja auch in aller Seelenruhe in seine Butterstulle beißt – ah, Butterstulle! –, während sie im Saal schon längst alle um die Wette schluchzen.
    Heute schaff ich das. Fast immer. Als wir mit dem Karussell unsern ersten Auftritt haben sollten, und auf dem Dachboden, den uns die Freizeitgestaltung zugewiesen hatte, lagen Leichen – da hab ich mir nur überlegt, wie wir die am besten wegkriegen konnten, bevor die Leute kamen. Habe ganz sachlich funktioniert. Der Lappen musste pünktlich hochgehen. Auch wenn wir gar keinen Lappen hatten.
    In Kolmar schaffte ich das anfänglich noch nicht. Ich war lebendiger, als ich es heute bin, aber Lebendigsein tut auch weh. Mitleid heißt Mitleiden. Manchmal sogar bei Dingen, die noch gar nicht passiert sind. Der Fluch der Phantasie. Wenn ein Verwundeter Schmerzen hatte, stellte ich mir auch noch die zusätzlichen vor, dieich ihm mit meiner Behandlung gleich zufügen würde. Und wurde immer noch unsicherer.
    Zu wenig Distanz. Der beste Arzt, den wir in Kolmar hatten, wollte nicht einmal die Namen der Männer wissen, an denen er herumschnitt oder herumsägte. Sie waren für ihn nur der Bauchdurchschuss oder die Splitterfraktur . Nach zehn Stunden am Operationstisch wusch er sich die Hände, setzte sich zum Essen und redete nur noch von seinem Blumengarten zu Hause, was dort jetzt blühen würde, und wie schwierig es für seine Frau sei, alles im Schuss zu halten, weil der Gärtner jetzt doch auch eingezogen worden war. Ich fand das damals gefühllos. Und mache es heute nicht anders.
    Man kann es nicht anders machen. Man hält es sonst nicht aus.
     
    Allzu lang ließ man mich nicht an den Patienten herumpfuschen. Bei

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