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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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doch niemand merken, dass mein Isabellenschimmel einäugig ist, blind, dass es überhaupt keine Isabellenfarbe gibt, sondern nur ein dreckiges, gelblich verfärbtes Weiß, dass es kein richtiges Pferd ist, auf dem ich reite, sondern nur eine hölzerne Attrappe, dilettantisch bemalt. Dass ich mir etwas vorgemacht habe die ganze Zeit. Dass ich behauptet habe, ein anständiger Mensch zu sein, obwohl es nicht wahr ist. Das darf doch niemand merken. Ich will nicht eingestehen müssen, dass es eine Lüge war.
    Die ganze Zeit eine Lüge.
    Es geht niemanden etwas an. Wenigstens in meinem Kopf willich mit mir allein sein dürfen. Reicht es denn nicht, dass man mir jede andere Privatheit genommen hat? Dass ich mich neben fremden Menschen auf die Latrine setzen muss, mit nacktem Arsch? Dass ich mich jeden Tag in eine Schlange stellen muss mit meinem Blecheimer? Dass ich ein Statist unter Tausenden sein muss, in der jämmerlichsten Massenszene, die sich je ein Regisseur hat einfallen lassen? Dass ich noch nicht einmal verschwinden darf in der Menge, gesichtslos werden wie die andern, was wenigstens eine kleine Erleichterung bringen würde, dass ich immer ich sein muss, der mit dem bekannten Gesicht und dem bekannten Bauch, dass ich mich von allen anschauen lassen muss, berühren und beriechen? Reicht das denn, verdammt noch mal, nicht aus? Muss ich jetzt auch noch öffentlich zur Marionette werden? Mir selber die Fäden anbinden, an denen Rahm dann zieht?
    «Du hast fast nichts gegessen», sagt Olga.
    «Ich habe keinen Hunger», sage ich.
    Absurder Humor.
    Sie nimmt den Rest der Suppe, um ihn in die Latrine zu kippen, wo er hingehört. Geht hinaus und lässt mich denken.
     
    Am Anfang habe ich in jeder Sekunde daran gedacht. Bin jeden Morgen und oft mitten in der Nacht damit aufgewacht. In meinem alten Zimmer, wo scheinbar alles genauso war wie früher. Wo immer noch der kaiserliche Hofzug im Regal stand, und am Haken neben der Tür die Schülermütze hing. Wäre ich bei jenem Sturmangriff gefallen, da bin ich mir ganz sicher, es hätte nicht anders ausgesehen. Mama hätte ein Museum daraus gemacht. Mit meinen Pantoffeln unter dem Bett und dem aufgeschlagenen Lateinbuch auf dem Schreibtisch. Es war jetzt schon ein Museum. Die Gedenkstätte für einen anderen Kurt Gerson. Der Primaner, dem das Zimmer gehörte, war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Seine Kleider waren noch da, ja, fremde Kleider, in die mein Körper hineinpasste, zumindest am Anfang, aber ich nicht. In der hintersten Ecke des Schranks hing meine Uniform, hatte sich dort verkrochen wie derLiebhaber im zweiten Akt einer französischen Farce. Ich gehörte hier nicht hin. Ich tat nur so, als ob ich ich wäre.
    Im Bad schloss ich nicht nur die Tür ab, sondern hängte auch noch ein Handtuch übers Schlüsselloch. Als Fünfzehnjähriger hatte ich das schon einmal getan, als sich mein Körper zu verändern begann und ich mir selber peinlich wurde. Die Phase war schnell vorübergegangen, ich hatte mich an die Veränderungen gewöhnt, an die Haare, die mir da unten wuchsen, und an die tiefer gewordene Stimme. Ich war sogar stolz darauf gewesen. Jetzt war da nichts, womit man hätte prahlen können.
    Jetzt war da nichts.
    Außer dem Gefühl, dass es mir jeder ansehen müsse.
    Der Effeff, unser Portier Heitzendorff, salutierte, wenn er mir im Treppenhaus begegnete. Aus patriotischem Stolz, weil es ihn vor sich selber aufwertete, dass er die Kohleneimer nicht mehr für irgendwelche Zivilisten in die zweite Etage schleppte, sondern für einen echten, gerade erst aus dem Lazarett entlassenen Kriegsteilnehmer. Ich erschrak jedes Mal. Verbarg sich hinter der übertriebenen Geste vielleicht ein ironischer Hintergedanke?
    Es hat mir nie jemand eine Frage gestellt. Das Bändchen des Verwundetenabzeichens im Kopfloch hätte es nicht gebraucht. Trotzdem hatte ich ständig das Gefühl, etwas darstellen zu müssen. Auch wenn ich nur über die Straße ging. Schaute mir der Mann dort drüben wirklich nur hinterher, weil Zivilisten meines Alters in Berlin schon eine Seltenheit waren? Oder hatte sich an meinem Äußeren etwas verändert, und ich hatte es selber nicht gemerkt? Bewegte ich mich anders als früher? Ich gewöhnte mir einen entschlossenen Schritt an, marschierte mehr, als dass ich ging, und hielt dabei den Rücken so gerade wie nur möglich. Friedemann Knobeloch hätte seine Freude an mir gehabt.
    Damals habe ich auch begonnen, Zigarren zu rauchen. Das machte männlich,

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