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Gerron - Lewinsky, C: Gerron

Titel: Gerron - Lewinsky, C: Gerron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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glaubte ich. Und ihr Geruch erinnerte mich an Großpapa. Der Genuss kam erst später, als ich mir die besseren Sorten leisten konnte.
    Meinen Eltern hatte ich es natürlich sagen müssen. Nach demAbendbrot. Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt für so eine Mitteilung. Als ich mit meinen paar Sätzen fertig war, schaute Mama mit zusammengepressten Lippen an mir vorbei. So schaute sie, wenn eine Peinlichkeit überhört werden musste, wenn Papa in seinem Bildungsdrang ein Thema ansprach, das ihr nicht salongerecht erschien, oder wenn einer von seinen Geschäftsfreunden nach der zweiten Flasche Lübecker Rotspon zu einem nicht ganz stubenreinen Witz ansetzte. Sie hat das Thema nie wieder erwähnt, all die Jahre nicht. Manche Dinge waren in ihrer Welt nicht vorgesehen.
    Papa war zuerst sprachlos und redete dann zu viel. Darauf komme es nicht an, sein Sohn sei sein Sohn, und ein Held sei ein Held. Später habe ich von Dr. Rosenblum erfahren, dass Papa von ihm wissen wollte, ob da wirklich nichts zu machen sei. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht später. Ich weiß nicht, ob er tatsächlich solches Vertrauen in die Fortschritte der Wissenschaft hatte, oder ob er meine Verwundung ganz simpel nicht wahrhaben wollte.
    Egal.
    Man kann einem Theateranfänger nichts Gemeineres antun, als wenn man ihm auf der Probe sagt: «Sei einfach ganz natürlich.» Dann weiß der arme Kerl erst recht nicht mehr, wo er mit seinen Händen hin soll. So ging es mir jetzt. Rund um die Uhr war ich damit beschäftigt, diesen mir so fremd gewordenen Kurt Gerson zu imitieren. Ich hatte das Gefühl, nicht sehr begabt dafür zu sein.
     
    Der Primaner Kurt Gerson. Das war hundert Jahre her. Unsere Lehrer mit ihren Bärten und ihren Phrasen – der ist dumm, der bei sum setzet das Adverbium – waren Klischeefiguren aus einem Kostümstück. Eine Schmonzette aus dem letzten Jahrhundert. Die nur noch auf dem Spielplan stand, weil niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie abzusetzen. Dabei waren seit unserem Notabitur, dieser Parodie auf eine Prüfung, noch nicht einmal zwölf Monate vergangen.
    Damals hatte ich, hatte dieser andere Kurt Gerson, Medizin alsBerufsziel in eine Liste eingetragen, und so begann ich halt zu studieren. Es hätte auch ein anderes Fach sein können.
    Egal. Scheißegal.
    Von meinen Mitschülern, der Elite der Nation, wie sie Dr. Kramm genannt hatte, waren damals schon vier gefallen.
    Ach, Kalle.
    Wir Erstsemester waren ein seltsames Häufchen. Lauter Untaugliche oder Ausgemusterte. Der eine kroch fast in seine Bücher hinein, weil er mit seinen schlechten Augen die Buchstaben nicht entziffern konnte, der andere hatte sich den leeren Ärmel an der Schulter seines Jacketts festgepinnt und schaute beim Sezieren nur zu. Auch ein paar Frauen waren dabei, aber die wurden nicht ernstgenommen. Professor Waldeyer, der Ordinarius für Anatomie, nahm sie nicht einmal zur Kenntnis.
    «Der menschliche Körper, meine Herren, ist das Meisterwerk der Natur», tremolierte er in seiner ersten Vorlesung. Darüber hätte man streiten können. Der Körper vielleicht. Das Hirn bestimmt nicht.
    Ich war ein eifriger Student. Mama stellte es mit Stolz fest, und Papa hatte nichts anderes erwartet. Dabei verkroch ich mich nur vor ihrer Fürsorge in die Ungestörtheit meines Zimmers. Natürlich, ich hatte tatsächlich Knochen, Muskeln und Organe zu büffeln, aber mit meinem Textgedächtnis fiel mir das leicht. Noch Jahre später, in der Kabarettzeit, habe ich die Kollegen damit unterhalten, dass ich ihnen all die Gesichtsmuskeln aufzählte, die ein Zuschauer in Bewegung setzen musste, um über unsere Pointen zu lachen. Ich weiß sie heute noch.
    Musculus orbicularis oris.
    « Ō s, oris, der Mund», hat man uns im Lateinunterricht eingebläut. «Neutrum, Gerson, Neutrum! Denken Sie immer an den Merkspruch: ‹ Ō s, der Mund, und os, das Bein, die müssen immer Neutra sein.›»
    Musculus depressor anguli oris.
    Wenn man menschliche Knochen durchtrennt, knacken sie. Nicht viel anders als bei einem Huhn, nur lauter.
    Musculus transversus menti.
    Bei den Sezierübungen kotzten nur die Zivilisten. Die an der Front gestanden hatten, waren Schlimmeres gewöhnt.
    Musculus risorius.
    Nur einmal, als der Professor den Dünndarm aus einer Leiche Hand über Hand herausholte, um uns dessen Länge zu demonstrieren, fiel Thalmann, der Mann mit dem angepinnten Ärmel, in Ohnmacht. Es muss ihn an etwas erinnert haben.
    Musculus zygomaticus major . Musculus zygomaticus minor.
    Im

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