Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006
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»Nun«, sagt er, »das soll mich nicht erschrecken.«
Zweitens kann er plötzlich nichts mehr riechen -
»Gut«, sagt er, »dann wird das auch gestrichen.«
Drittens kann er plötzlich nicht mehr tasten -
»Aber ach«, sagt er, »was schadet das denn?«
Viertens kann er plötzlich nichts mehr hören -
»Na«, sagt er, »das sollte mich nicht stören.«
Fünftens kann er plötzlich nichts mehr sehen -
»Gott«, sagt er, »es muß auch anders gehen.«
Sechstens kann er plötzlich nichts mehr kitten -
»Halt«, ruft er, »das muß ich mir verbitten!
Sinne gibt es Stücker fünf, nicht mehr -
Kitten fällt nicht drunter, bitte sehr!«
Und ihm wird gewährt, worum er bittet.
Seitdem kittet Dorlamm. Kittet. Kittet…
Dorlamm liest
Dichter Dorlamm liest in einem Buch,
doch er wird aus diesem Buch nicht klug.
Liest darin und legt es wieder hin -
nein, er kommt nicht hinter seinen Sinn.
Legt es hin und denkt, sooft er las:
»Ich kapier' das nicht. Was soll denn das?«
Denkt: »Was soll das? Wer schreibt solchen Mist?«
Und schaut nach, wer der Verfasser ist.
Schaut aufs Buch, und plötzlich ist ihm klar,
daß der Autor ein Herr Dorlamm war.
Dorlamm? Dorlamm selbst hat es geschrieben!
Peinlich? Rasend peinlich, meine Lieben!
Die Bilanz
Dichter Dorlamm nimmt sich vor, sein Ringen
endlich einmal auf den Punkt zu bringen.
Setzt sich hin und schreibt: Ich will mein Ringen,
um es endlich auf den Punkt zu bringen,
in drei Teile gliedern – in das Bringen,
in den Punkt und last not least das Ringen
Überlegt, macht einen Punkt nach Ringen,
seufzt und läßt sich einen Cognac bringen.
Damit, fährt er fort, wär'n Punkt und Bringen
schon mal klar, bleibt lediglich das Ringen.
Ringen – meine Güte, was meint Ringen?
Sorry, Kinder, ich schein's nicht zu bringen.
Lassen wir's? Er läßt die Feder sinken,
pfeift aufs Schreiben und beginnt das Trinken.
Was ist Elektrizität?
Dorlamm, um ein Referat gebeten,
hält es gern, um dies hier zu vertreten:
»Wenn das Ohm sie nicht mehr alle hat,
heißt es nicht mehr Ohm, dann heißt es Watt.
Jedoch nur, wenn's gradeliegt, liegt's quer,
heißt es nicht mehr Watt, dann heißt's Ampere.
Heißt Ampere, ja, wenn es liegt, nicht rollt,
rollt es nämlich, nennen wir es Volt.
Rollt ein Volt nicht mehr und legt sich quer,
heißt es wieder – wie gehabt – Ampere.
Heißt Ampere, wenn's sperrig liegt, liegt's glatt,
wird es – na wozu wohl schon? – zum Watt.
Wird zum Watt, zur Maßeinheit für Strom,
wenn's nicht alle hat. Sonst heißt es Ohm.«
Dorlamm endet, um sich zu verneigen,
doch er neigt sich vor betretnem Schweigen.
»Glaubt es nicht«, ruft Dorlamm, »oder glaubt es -
mir egal!« Und geht erhobnen Hauptes.
Dorlamm meint
Dichter Dorlamm läßt nur äußerst selten
andre Meinungen als seine gelten.
Meinung, sagt er, kommt nun mal von mein,
deine Meinung kann nicht meine sein.
Meine Meinung – ja, das läßt sich hören!
Deine Deinung könnte da nur stören.
Und ihr andern schweigt! Du meine Güte!
Eure Eurung steckt euch an die Hüte!
Laßt uns schweigen, Freunde! Senkt das Banner!
Dorlamm irrt. Doch formulieren kann er.
Die letzte Reise
I
Dichter Dorlamm spricht: »Ich will es wissen!«
Und er macht sich auf den Weg nach Füssen.
Läßt sich aber erst den Kopf verbinden,
blicklos will er zu dem Ziele finden.
Ausschließlich das Tasten, Wittern, Spüren
soll ihn in die Stadt im Süden führen.
II
Doch der Süden ist ein weites Feld,
Dorlamm zieht seit Jahren durch die Welt.
Wird ganz wirr. Betastet einen Herrn.
»Herr, sind wir in Füssen?« »Nein, in Bern.«
Wird ganz traurig. Wittert eine Spur.
»Führt die Spur nach Füssen?« »Nein, nach Chur.«
Wird ganz schwach. Spürt hinterrücks ein Ziehn.
»Zieht mich wer aus Füssen?« »Nein, aus Wien.«
III
Kommt in eine Stadt, glaubt sich am Ziel,
reißt die Binde ab und steht in Kiew.
IV
Spaßmacher und Ernstmacher
Als er sich mit vierzig
im Spiegel sah
Seht mich an: Der Fuß der Zeit
trat mir meine Wangen breit.
Schaut mein Ohr! Die vielen Jahre
drehten es ins Sonderbare!
Ach des Kinns! Es scheint zu fliehn,
will die Lippen nach sich ziehn!
Ach der Stirn! Die vielen Falten
drohen mir den Kopf zu spalten!
Die Nase! Oh, wie vorgezogen!
Der Mund! So seltsam eingebogen!
Der Hals! So krumm! Die Haut! So rot!
Das Haar! So stumpf! Das Fleisch! So tot!
Nur die Augen, lidumrändert,
strahlen blau und unverändert,
schauen
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