Gesammelte Wanderabenteuer
gibt eben auch die Hartgesottenen: die Junkies. Die können nicht einfach monatelang aus dem Fenster schauen und die Hände in den Schoß legen. Und auch ich gestehe: Ich bin Wanderjunkie. Wenn ich Zeit zum Wandern habe, dann wandere ich, auch im Winter. Es ist nicht meine Lieblingswanderzeit, aber sie hat auch ihre Vorzüge: Man kann meist viel weiter ins Land schauen, die kahlen Bäume und Sträucher geben Blicke frei, die im Sommer zugewachsen sind. Wer noch nie dem Charme einer verschneiten Winterlandschaft erlegen ist, der hat ein Herz aus Stein.
Daher war es auch an diesem bitterkalten 5. März, einem gefühlten Wintertag, keine Frage: Ich würde wandern.
Die Erkenntnis ist nicht neu: Im Winter hängt alles von der richtigen Ausrüstung ab. Ästhetisch sind lange Unterhosen bedenklich. Wenn ich mich damit im Spiegel sehe, muss ich immer an einen Westernhelden denken, der, aus dem Schlaf aufgeschreckt, mit der Winchester am Saloon-Fenster für die Ehre seiner Stadt und seiner Familie in langen Unterhosen kämpft. Aber praktisch sind lange Unterhosen im Winter unumgänglich. In den Würgegriff eines Schals begebe ich mich ungern. Dafür ziehe ich gegen die Halseskälte einen Fleece-Pullover mit hohem Kragen an – der tut es meist auch. Dazu Mütze, Jacke, festes Schuhwerk – alles Selbstverständlichkeiten. Außerdem warme Handschuhe und dicke Socken. Wie der Volksmund sagt: Füße warm, Doktor arm. Und für den Fall, dass die Sonne scheint, sollte man eine Sonnenbrille dabeihaben. Die starke Lichteinstrahlung führt manchmal sogar zu Spontanerblindung.
Am mollig warmen Schreibtisch lassen sich die richtigen Tipps für Kleidung und Ausrüstung leicht geben. Man könnte also den Eindruck gewinnen, Mensch, der Andrack, |280| der hat es drauf, der weiß, wie man eine Winterwanderung angeht. Als ich aber den Affensteinweg in der Sächsischen Schweiz ging, hätte ich doch besser eine Skihose statt der Jeans angezogen. Immer wieder versank ich im Tiefschnee. Vielleicht wären Handschuhe aus wasserundurchlässigem Material besser gewesen als meine aus Wolle. Nicht weil ich so viele Schneeballschlachten mit mir selbst auf der Wanderung gemacht hätte, sondern weil man sich beim Klettern an steileren Stellen doch hier und da mit den Händen abstützen muss. Die Handschuhe wurden erst klamm und dann nass. Und meine Sonnenbrille hatte ich auch vergessen.
Auch wenn mich der Winter nicht vom Wandern abhalten kann, so bin ich letztlich doch kein Wintertyp. Ich bin nie im Skiurlaub gewesen oder im Hochgebirge gewandert, noch besitze ich eine winterfeste Ausrüstung, und genau das hätte mir auf dieser Wanderung zum Verhängnis werden können. Denn ich kann ohne Übertreibung sagen, dass das die riskanteste Wanderung war, die ich jemals unternommen habe.
Ich wollte das Hinterland erkunden. Zur Elbe hin bilden Bastei und Schrammsteine eine phantastische Kulisse und sind eben nicht nur eine dieser potemkinschen Landschafts-Skylines wie zum Beispiel das Rheintal. Dort ist das Panorama vom Fluss aus gesehen überwältigend, und auch der Höhenweg ist grandios. Aber dahinter? Da wird es doch sehr wiesenfeldertaunushunsrückesk. Anders an der Elbe. Von Einheimischen hatte ich den Tipp bekommen, auch einmal landeinwärts zu wandern.
Ich startete hoch über dem Fluss am Rand des Elbsandsteingebirges in der Nähe des Kurorts Bad Schandau (übrigens, nicht irritieren lassen: Die Sächsische Schweiz und das |281| Elbsandsteingebirge sind ein und dasselbe. Das ist wie in einem Roman von Dostojewski, in dem eine Person Karamasow, Alexej Fjodorowitsch, Alexejtschik, Aljoscha, Aljoschenka, Aljoschka, Ljoscha und Ljoschetschka heißt). Auf den ersten zwei Kilometern meiner Wanderung musste ich über ein offenes Feld gehen. In der Ferne sah man zwar die Elbsandsteinfelsen, aber für irgendwelche Naturschönheiten war in meinem von einem unbarmherzigen Ostwind umwehten Kopf kein Platz. Die Kälte trieb mir die Tränen in die Augen, die Ohren schmerzten. Was für ein Irrsinn, hier oben herumzulaufen, kurz vor Sibirien, mit einer einfachen Wollmütze, durch die der Wind pfiff. Ich wünschte mir eine riesige russische Fellmütze. Hatte ich schon erwähnt, dass es gefühlte minus 28 Grad waren? Sollte ich die Wanderung schon nach den ersten Metern aufgeben müssen? Als ich den Wald unterhalb der Schrammsteinaussicht erreichte, schützten die Bäume und Felsen vor dem eisigen Wind, und ich schöpfte neuen Mut. Jetzt ging es bergan, und
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