Gesammelte Wanderabenteuer
eine Stunde in der Kälte wartet, fallen einem blitzschnell andere Selbstmordarten im häuslichen Umfeld ein: aufhängen, Tabletten schlucken, Pulsadern aufschneiden, sich erschießen, aus dem Fenster stürzen. Mit ein wenig gutem Willen |292| könnte doch jeder Selbstmordwillige sein Vorhaben umsetzen, ohne Wanderer bei der Anfahrt mit der Deutschen Bahn zu behindern.
Der Personenschaden war der Beginn einer anderthalbtägigen Tour mit meinem besten Freund Markus, dem Deutschlehrer. 33 Kilometer auf dem Rheinsteig hatten wir uns vorgenommen – von insgesamt 320 Kilometern, die der neue Weg von Bonn bis Wiesbaden umfasst. Der Rheinsteig-Reiseführer schlägt eine Einteilung in 20 Teilstrecken vor, die meiner Ansicht nach teilweise etwas zu kurz geraten sind. Am ersten Tag wollten wir ab Kaub 21 Kilometer über die Loreley bis St. Goarshausen gehen: die Königsetappe des Rheinsteigs. Markus brüstete sich mit einer mehrtägigen Wanderung durch die Alpen im Sommer. »Das ist schon etwas anderes als deine Mittelgebirgswanderei«, spuckte er große Töne. »Wir sind da in sechs Tagen 10.000 Höhenmeter gewandert, das sind Wanderungen, sage ich dir!« Ich schaute direkt in meinem Rheinsteig-Wanderführer nach, wie viele Höhenmeter wir an diesem Tag auf dem Weg zwischen Kaub und St. Goarshauen zurücklegten: 1.385 Meter. Alpine Verhältnisse am Rhein. Ha! Das war respektabel, und es brachte Markus zum Schweigen.
Von Kaub aus ging es dann auch direkt auf die Höhe, und bei gutem Wetter soll man einen hervorragenden Blick auf den Fluss haben. An diesem Tag verschwand alles im Nebel, was aber den hochalpinen Charakter verstärkte: Wir wanderten oberhalb der Wolkengrenze, wobei die Tiere am Wegesrand eher vermuten ließen, dass wir uns irgendwo in den Kordilleren befanden. Waschechte Rhein-Lamas grasten friedlich und schauten kaum auf, als wir an ihnen vorbeigingen. Gegen zwölf Uhr riss die Nebeldecke schließlich |293| auf und gab Rhein und den gegenüberliegenden Hunsrück frei.
Immer auf der Suche nach neuen Wandergegenden, hatte ich zuletzt mit einer Bekannten gesprochen. Sie schwärmte vom Taunus, ihrer Heimat. »Na ja, Taunus, ich weiß nicht«, murmelte ich, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. »Da fährt doch nur der schnelle ICE von Köln nach Frankfurt durch.« »Nein«, meinte sie, »da gibt es doch die ganzen Burgen!« Burgen im Taunus? Wo sollen denn die berühmten Taunus-Burgen sein? »Na, am Rhein.« Okay. Streng geographisch gesehen, ist das richtig, aber kein Mensch würde jemals sagen: »Ich gehe im Taunus wandern«, wenn er sich am rechtsrheinischen Ufer befindet. Menschen, die an Flüssen wohnen, sagen ja auch immer: »Wir kommen von der Mosel« oder »Wir leben am Rhein«. Die Flusslage ist einfach das Vorzeigeviertel der Mittelgebirge, dahinter kommen die landschaftlichen Slums. Die haben natürlich auch ihren ganz eigenen Charme, strahlen aber nicht die gleiche Würde und Klasse aus.
Wir hatten uns mittlerweile etwas vom Rhein entfernt und liefen an Dörscheid vorbei, ein Dorf der Kategorie »Westerwälder Allerlei«. Der Weg wurde immer schmaler. Sehr schmal. Über staubige Erde und Schiefergeröll ging es ungesichert ohne Geländer am Hang entlang. Da ich nicht schwindelfrei bin, musste ich öfters Pausen machen und kam nur sehr langsam voran. Ich ging wie auf Eiern. Markus, der alte Alpinist, marschierte forsch voran (»Das ist nix hier gegen die Alpen«), war aber auch meiner Meinung, dass das nun nicht mehr der Rheinsteig sein könne. Wir hatten schon länger keine Markierung gesehen. Für einen Wohlfühlweg war es hier zu gefährlich. Der Untertitel des Rheinsteigs heißt zwar »Wandern auf hohem Niveau«, aber damit war |294| wohl kaum Harakiri-Wandern gemeint. Auch wenn die Tagestour zwischen Kaub und St. Goarshausen mit »drei Sternen«, der höchsten und anspruchsvollsten Klassifizierung, gekennzeichnet war und als eine der schwierigsten Tagestouren galt. Aber das hier war lebensgefährlich. Immerhin war es überhaupt ein Weg, sodass es nicht in Frage kam, umzukehren. Aber hätte man uns nicht intensiver vor diesem Weg warnen können, ja müssen? Warum gab es keine richtigen Wanderverkehrszeichen?
|295|
Nach insgesamt 45 Minuten gelangten wir wieder auf den Rheinsteig. Das weiße »R« auf blauem Grund verhieß eine Rückkehr in zivilisierte Wandergefilde. Wir mussten aber überheblich schmunzeln, als der Weg sich über ein paar Felsen schlängelte. Hier war alles für
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