Gesammelte Werke 1
sind noch zwanzig Meter bis zu ihm, doch selbst aus dieser Entfernung ist zu hören, wie er schwer und pfeifend atmet und immer wieder vor Anstrengung stöhnt.
Er belädt gerade ein Wägelchen, das auf hohen schmalen Rädern steht und aussieht wie ein Kinderwagen: Zuerst schleppt er sich durch ein zerbrochenes Schaufenster, verschwindet dort für längere Zeit und kommt dann langsam wieder heraus. Dabei stützt er einen Arm gegen die Wand und drückt mit dem anderen, gekrümmten Arm immer zwei oder drei Dosen mit grellen Etiketten an die Brust. Jedes Mal, wenn er es bis zu seinem Wägelchen geschafft hat, lässt er sich erschöpft auf einen kleinen dreibeinigen Klappstuhl sinken, sitzt eine Zeit lang unbeweglich da und beginnt dann, ebenso langsam wie vorsichtig, die Dosen aus dem gekrümmten Arm in den Wagen zu legen. Hat er es geschafft, ruht er sich wieder aus, als schliefe er im Sitzen. Danach steht er mit wackligen Beinen auf und geht erneut zum Schaufenster.
Wir stehen hinter der Ecke und geben uns keine Mühe, uns zu verstecken; wir wissen, dass der Alte um sich herum weder etwas sieht noch hört. Wepls Worten zufolge ist er hier ganz allein, ringsum ist niemand, allenfalls sehr weit weg. Ich habe keine Lust, mit dem Alten Kontakt aufzunehmen, werde es aber offensichtlich tun müssen - und sei es, um ihm beim Einsammeln der Dosen zu helfen. Aber ich habe Angst, ihn zu erschrecken. Ich bitte Vanderhoeze, ihn Espada zu zeigen, soll Espada feststellen, was er für einer ist - »Zauberer«, »Soldat« oder »Mensch«.
Der Alte hat nun zum zehnten Mal seine Dosen abgeladen und ruht sich wieder aus, zusammengesunken auf dem dreibeinigen Stühlchen. Sein Kopf zittert ein bisschen und sinkt
dann immer tiefer auf die Brust. Anscheinend schläft er gerade ein.
»Ich habe bisher nichts dergleichen gesehen«, erklärt Espada. »Sprechen Sie mit ihm, Lew.«
»Er ist wirklich sehr alt«, sagt Vanderhoeze zweifelnd.
»Gleich wird er sterben«, knurrt Wepl.
»Eben«, sage ich. »Insbesondere wenn ich in diesem merkwürdigen, regenbogenfarbenen Anzug vor ihm auftauche …«
Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, da kippt der Alte nach vorn und fällt seitwärts auf die Straße.
»Schon vorbei«, sagt Wepl. »Wir können hingehen und ihn uns ansehen, wenn es dich interessiert.«
Der Alte ist tot; er atmet nicht, und es ist kein Puls mehr zu spüren. Alles deutet auf einen Infarkt und vollkommene physische Erschöpfung hin. Nicht vom Hunger - er war einfach sehr, sehr alt und hinfällig. Ich knie mich neben ihn und betrachte sein grünlich-weißes, hageres Gesicht, die buschigen grauen Augenbrauen, den leicht geöffneten, zahnlosen Mund, die eingefallenen Wangen. Ein sehr menschliches, irdisches Gesicht. Der erste normale Mensch in dieser Stadt - tot. Und ich kann nichts tun, denn ich habe nur die Feldausrüstung bei mir.
Ich spritze ihm zwei Ampullen Nekrophag und sage Vanderhoeze, dass er Ärzte herschicken soll. Ich will mich nicht länger hier aufhalten. Das wäre sinnlos. Er wird nicht mehr sprechen, und wenn, dann nicht sehr bald. Bevor ich gehe, bleibe ich noch eine Minute lang bei ihm stehen, betrachte das halb mit Konservendosen gefüllte Wägelchen, den umgekippten Klappstuhl, und denke, dass der Alte dieses Stühlchen sicherlich immer mitgeschleppt und sich alle paar Minuten zum Ausruhen daraufgesetzt hat.
Gegen sechs Uhr abends beginnt es zu dämmern. Nach meinen Berechnungen haben wir bis zum Ende unserer Route noch zwei Stunden Weg vor uns, und ich schlage Wepl vor,
eine Pause zu machen und etwas zu essen. Erholung hat Wepl nicht nötig; doch er lässt sich die Gelegenheit, etwas zwischen die Zähne zu bekommen, natürlich nicht entgehen.
Wir setzen uns auf den Rand eines großen, ausgetrockneten Springbrunnens, der sich am Fuße eines geflügelten, steinernen Fabelwesens befindet. Ich öffne die Proviantpakete, wir essen. Ringsumher sehen wir den matten Widerschein der Häusermauern, es ist totenstill. Mir fällt ein, dass jetzt auf Dutzenden der zurückgelegten Kilometer unserer Marschroute keine tödliche Leere mehr herrscht, sondern Menschen am Werk sind. Ein angenehmer Gedanke.
Beim Essen spricht Wepl nie. Ist er jedoch satt, plaudert er gern.
»Dieser Alte«, sagt er, während er sich sorgfältig die Pfote ableckt, »ob sie ihn wirklich wieder lebendig gemacht haben?«
»Ja.«
»Er lebt wieder, geht, spricht?«
»Sprechen wird er wohl kaum, und gehen erst recht nicht, aber er
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