Gesammelte Werke 1
lebt.«
»Schade«, brummt Wepl.
»Schade?«
»Ja. Schade, dass er nicht sprechen kann. Es wäre interessant zu erfahren, was dort ist …«
»Wo?«
»Dort, wo er war, als er nicht mehr lebte.«
Ich lache. »Du meinst, dass dort etwas ist?«
»Muss es ja. Ich muss schließlich irgendwo hingeraten, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Wohin gerät der elektrische Strom, wenn man ihn ausschaltet?«, frage ich.
»Das habe ich auch nie begreifen können«, gesteht Wepl. »Aber dein Argument ist ungenau. Ja, ich weiß nicht, wohin der elektrische Strom gerät, wenn man ihn ausschaltet. Aber ich weiß ebenso wenig, wo er herkommt, wenn man ihn einschaltet.
Wo ich jedoch hergekommen bin - das weiß und begreife ich.«
»Aber wo warst du, als es dich noch nicht gab?«, frage ich listig.
Aber für Wepl ist das kein Problem. »Ich war im Blut meiner Eltern. Und vorher im Blut der Eltern meiner Eltern.«
»Also wirst du, wenn es dich nicht mehr gibt, im Blut deiner Kinder sein …«
»Und wenn ich keine Kinder habe?«
»Dann wirst du in der Erde sein, im Gras, in den Bäumen.«
»Das stimmt nicht! Im Gras und in den Bäumen wird mein Körper sein. Aber wo bin dann ich selbst?«
»Im Blut deiner Eltern warst auch nicht du selbst, sondern dein Körper. Schließlich kannst du dich nicht daran erinnern, wie es im Blut deiner Eltern gewesen ist.«
»Wieso kann ich mich nicht erinnern?«, wundert sich Wepl. »An sehr vieles erinnere ich mich!«
»Ja, richtig«, murmele ich und gebe mich geschlagen, »ihr habt ja ein Erbgedächtnis.«
»Nennen kann man es, wie man will«, brummt Wepl. »Aber ich begreife wirklich nicht, wohin ich gerate, wenn ich jetzt auf der Stelle sterbe. Ich habe ja keine Kinder.«
Ich beschließe, die Diskussion abzubrechen. Mir ist klar, dass ich Wepl niemals werde begreiflich machen können, dass dort nichts ist. Deshalb packe ich schweigend das Proviantpaket zusammen, lege es in den Rucksack und setze mich bequem hin, strecke die Beine aus.
Wepl hat auch die zweite Pfote sorgfältig abgeleckt, das Fell auf seinen Backen in Ordnung gebracht und nimmt die Unterhaltung wieder auf.
»Ich wundere mich über dich, Lew«, sagt er. »Über euch alle. Habt ihr es wirklich noch nicht satt hier?«
»Wir arbeiten hier«, antworte ich träge.
»Wozu Arbeit ohne Sinn tun?«
»Warum denn ohne Sinn? Du siehst doch, wie viel wir an einem einzigen Tag erfahren haben.«
»Eben deshalb frage ich ja: Wozu wollt ihr etwas erfahren, was keinen Sinn hat? Was wollt ihr damit anfangen? In einem fort und ständig erfahrt ihr etwas, aber ihr fangt ja doch nichts damit an.«
»Zum Beispiel?«, frage ich.
Wepl ist groß im Diskutieren. Gerade hat er einen Sieg über mich errungen, und jetzt versucht er es offenbar ein zweites Mal.
»Zum Beispiel die Grube ohne Boden, die ich vorhin gefunden habe. Wer kann eine Grube ohne Boden gebrauchen und wozu?«
»Es ist eigentlich keine Grube«, sage ich. »Eher die Tür zu einer anderen Welt.«
»Könnt ihr durch diese Tür gehen?«, erkundigt sich Wepl.
»Nein«, gebe ich zu. »Können wir nicht.«
»Wozu braucht ihr dann eine Tür, durch die ihr sowieso nicht gehen könnt?«
»Heute können wir es nicht, aber morgen werden wir es vielleicht können.«
»Morgen?«
»Im weiteren Sinne. Übermorgen. In einem Jahr …«
»Eine andere Welt, eine andere Welt«, knurrt Wepl. »Habt ihr etwa nicht genug Platz auf dieser?«
»Wie soll ich sagen … Vielleicht ist es ja unserer Phantasie zu eng hier.«
»Klar doch!«, bemerkt Wepl giftig. »Und kaum seid ihr in der anderen Welt angekommen, schon fangt ihr an, sie nach dem Bild eurer eigenen umzumodeln. Und natürlich wird es eurer Phantasie dann wieder zu eng, und ihr sucht euch noch irgendeine Welt und fangt wieder an, sie umzumodeln …«
Plötzlich hält er in seiner Philippika inne, und im selben Moment spüre ich die Anwesenheit eines Fremden. Ganz nahe. Zwei Schritte weiter. Dort, am Sockel des Fabelwesens.
Es scheint ein ganz normaler Eingeborener zu sein, wohl einer aus der Kategorie »Menschen« - ein kräftiger, stattlicher Mann in Leinenhosen und mit einer Windjacke auf dem bloßen Oberkörper; an einem Riemen um den Hals trägt er ein automatisches Gewehr. Eine ungekämmte Haarsträhne fällt ihm ins Gesicht; Wangen und Kinn sind glatt rasiert. Er steht völlig reglos am Sockel; nur seine Augen wandern ruhig von mir zu Wepl und zurück. Anscheinend sieht er in der Dunkelheit nicht schlechter als wir. Ich
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