Gesammelte Werke 1
verstehe nicht, wie er lautlos und unbemerkt so nah an uns herankommen konnte.
Ich fasse mit der Hand vorsichtig hinter den Rücken und schalte den Lingar meines Translators ein.
»Komm her und setz dich, wir sind Freunde«, sage ich, indem ich nur die Lippen bewege.
Mit einer halben Sekunde Verzögerung dringen aus dem Lingar die entsprechenden, sogar recht angenehmen Kehllaute.
Der Unbekannte zuckt zusammen und weicht einen Schritt zurück.
»Hab keine Angst«, sage ich. »Wie heißt du? Ich heiße Lew und er Wepl. Wir sind keine Feinde. Wir wollen mit dir sprechen.«
Nein, das wird nichts. Der Unbekannte weicht noch einen Schritt zurück und verschwindet schon halb hinter dem Sockel. Sein Gesicht ist noch immer ausdruckslos, und es ist nicht einmal klar, ob er versteht, was man ihm sagt.
Aber ich gebe nicht auf. »Wir haben gutes Essen. Vielleicht bist du hungrig oder willst trinken? Setz dich zu uns, ich gebe dir gern etwas ab.«
Mir ist plötzlich eingefallen, dass dem Eingeborenen dieses »wir« und »zu uns« seltsam vorkommen muss, und ich bin
eilends zur ersten Person übergegangen. Aber auch das hilft nicht. Der Eingeborene verschwindet nun ganz hinter dem Sockel und ist jetzt weder zu sehen noch zu hören.
»Er geht«, knurrt Wepl.
Und gleich sehe ich den Eingeborenen wieder: Er überquert mit langen, geräuschlosen und gleichsam schwebenden Schritten die Straße, betritt den gegenüberliegenden Gehweg, und ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen, verschwindet er um die Ecke.
2. JUNI’78
Lew Abalkin von Angesicht zu Angesicht
Gegen 18 Uhr überfielen mich Andrej und Sandro ohne Voranmeldung. Ich ließ die Mappe im Schreibtisch verschwinden und erklärte ihnen streng, dass ich keinerlei dienstliche Gespräche dulden könne, da sie ab jetzt nicht mehr mir, sondern Claudius unterstellt seien. Außerdem sei ich beschäftigt.
Sie fingen an zu jammern und zu bitten - sie seien gar nicht in dienstlicher Angelegenheit gekommen, würden mich sehr vermissen, und so gehe es einfach nicht … Alles, was recht ist, aber jammern können sie, und ich ließ mich erweichen. Die Bar wurde geöffnet, und wir unterhielten uns eine Zeit lang angeregt über meine Kakteen. Dann aber fiel mir plötzlich und ganz zufällig auf, dass wir schon nicht mehr von den Kakteen sprachen, sondern von Claudius, was sogar eine gewisse Berechtigung hatte. Denn Claudius erinnerte mit seinen Pickeln und seiner Kratzbürstigkeit sogar mich an einen Kaktus. Aber ehe ich mich versah, hatten die zwei Spitzel einen außerordentlich geschickten und zwanglosen Übergang
zu dem Fall mit den Bioreaktoren und »Kapitän Nemo« gefunden.
Ich ließ mir nichts anmerken, sondern die beiden in Fahrt kommen, und dann, auf dem Höhepunkt, als sie schon glaubten, sie hätten ihren Chef so weit, bat ich sie zu gehen. Ich hätte sie sogar hinausgeworfen, denn ich war ziemlich wütend, sowohl auf sie als auch auf mich selbst. Aber in dem Moment kam, wiederum ohne Voranmeldung, Aljonna. Das ist Schicksal, dachte ich, und ging in die Küche. Es war ohnehin Zeit für das Abendessen, und selbst den jungen Spitzeln ist bekannt, dass in Gegenwart Dritter über unsere Angelegenheiten nicht gesprochen wird.
Das Abendessen wurde sehr nett. Die Spitzel vergaßen alles um sich herum und plusterten sich auf, um Aljonna zu imponieren. Nachdem Aljonna sie abblitzen ließ, plusterte ich mich auf - um die Sache in Gang zu halten. Am Ende der Hahnenparade gab es nun die große Diskussion, was man jetzt noch unternehmen könne. Sandro forderte, wir sollten zu den »Oktopoden« aufbrechen, und zwar sofort, weil die besten Stücke dort gleich zu Anfang kämen. Andrej dagegen ereiferte sich wie ein echter Musikkritiker gegen die »Oktopoden«; seine Theorie über die moderne Musik war frisch und originell und lief schließlich darauf hinaus, dass heute Nacht die beste Gelegenheit sei, seine neue Jacht (»Weislieb«) unter Segeln auszuprobieren. Ich für meinen Teil war für Rätselraten oder, im äußersten Notfall, für Pfänderspiele. Aljonna hingegen, die mitbekommen hatte, dass ich an diesem Abend nirgendwo mehr hinginge und zudem beschäftigt war, bekam schlechte Laune und fing an zu schimpfen und zu randalieren: »Zum Teufel mit den ›Oktopoden‹!«, rief sie. »Über den Jordan damit! Bim-Bom-Bramseljam! Wir wollen Krach machen!« Und so weiter.
Als die Diskussion in vollem Gange war, läutete das Videofon. Es war 19:33 Uhr. Andrej, der dem Apparat am
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