Gesammelte Werke 1
Feder und zeichnen Szenen und Ereignisse nach, bei denen ich nicht selbst vor Ort war. Ich habe sie auf der Grundlage von Erzählungen, Tonaufzeichnungen und späteren Erinnerungen von Menschen rekonstruiert, die unmittelbar beteiligt waren - wie etwa Toivo Glumows Frau Assja, seine Kollegen, seine Bekannten usw. Ich weiß, dass diese Kapitel für die Mitarbeiter der Gruppe »Menten« von geringem Wert sind, aber das macht nichts - für mich sind sie wertvoll.
Und schließlich habe ich mir erlaubt, dem Text eigene Reminiszenzen hinzuzufügen, die weniger über die Ereignisse etwas aussagen, als über den damals achtundfünfzigjährigen Maxim Kammerer. Das Verhalten dieses Menschen unter den dargestellten Umständen weckt noch heute, einunddreißig Jahre später, einiges Interesse - sogar bei mir selbst …
Als ich mich endgültig entschlossen hatte, die Memoiren zu schreiben, stellte sich mir die Frage: Womit beginnen? Wann und was war der Anfang der Großen Offenbarung?
Genau genommen begann alles vor etwa zweihundert Jahren, als in den Tiefen des Mars eine leere Tunnelstadt aus Elektrin entdeckt wurde: Damals fiel zum ersten Mal das
Wort »Wanderer« . Das ist richtig. Aber zu allgemein. Ebenso gut könnte man behaupten, die Große Offenbarung hätte im Augenblick des Großen Urknalls begonnen.
Dann vielleicht vor fünfzig Jahren? Der Fall mit den »Findelkindern«? Damals bekam das Wanderer -Problem erstmals einen tragischen Beigeschmack. Der maliziöse, vorwurfsvolle Begriff des »Sikorsky-Syndroms« wurde geboren und breitete sich schnell aus; er verwies auf die unkontrollierbare Angst vor einer möglichen Invasion der Wanderer . Auch richtig, und schon näher an der Sache … Aber damals war ich noch nicht Chef der Abteilung BV, und auch die Abteilung selbst existierte noch nicht. Zudem erforsche und schreibe ich hier ja nicht die Geschichte des Wanderer -Problems.
Für mich also begann es im Mai’93. Wie alle anderen BV-Abteilungsleiter von sämtlichen Sektoren der KomKon 2 erhielt ich ein Informat über den Tissa-Vorfall (nicht der Fluss Tisza oder Theiß, der durch Ungarn und Transkarpatien fließt, ist hier gemeint, sondern der Planet Tissa des Sterns EN 63061, den die Jungs von der Gruppe für Freie Suche kurz zuvor entdeckt hatten). Im Informat wurde das Ereignis als ein Fall spontaner, unerklärlicher Geistesverwirrung behandelt, von der alle drei Mitglieder der Forschungsgruppe betroffen waren, die zwei Wochen zuvor auf einem Plateau (den Namen habe ich vergessen) gelandet war. Alle drei glaubten plötzlich, die Verbindung zur Zentralbasis sei abgerissen und sie stünden nun zu niemandem mehr in Verbindung - außer zum Mutterschiff im Orbit, dessen Bordcomputer allerdings in endloser Wiederholung mitteile, dass die Erde infolge eines kosmischen Kataklysmus untergegangen und die Bevölkerung der Äußeren Welten infolge unerklärlicher Epidemien ausgestorben sei.
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten. Zwei Mitglieder der Gruppe hatten wohl zunächst versucht, sich umzubringen, und endeten schließlich in der Wüste - verzweifelt
und ohne Hoffnung angesichts des totalen Verlusts von allem, was ihrem Leben einen Sinn gegeben hatte. Der Kommandant der Gruppe hingegen erwies sich als ungewöhnlich charakterfest. Eisern riss er sich zusammen und zwang sich zum Weiterleben, so, als wäre die Menschheit gar nicht umgekommen, sondern nur er selbst in eine Notlage geraten und für immer vom Heimatplaneten abgeschnitten. Später erzählte er, am vierzehnten Tag seiner wahnhaften Existenz sei ihm eine weiße Gestalt erschienen und habe ihm verkündet, dass er, der Kommandant, die erste Bewährungsprobe ehrenvoll bestanden hätte und nun als Kandidat für die Gemeinschaft der Wanderer akzeptiert sei. Am fünfzehnten Tag traf vom Mutterschiff das Rettungsboot ein, und die Lage entspannte sich. Die beiden Forscher, die es in die Wüste verschlagen hatte, wurden wohlbehalten aufgefunden; alle waren und blieben fortan bei Verstand und niemand hatte Schaden genommen. Die Aussagen der drei Männer deckten sich bis ins Detail: So gaben sie etwa völlig übereinstimmend den Akzent des Computers wieder, der angeblich die Unglücksnachricht übermittelt hatte. Subjektiv hatten sie die Ereignisse wie eine eindrucksvolle, sehr realistische Theateraufführung empfunden, an der sie unerwartet und wider Willen hatten teilnehmen müssen. Die Tiefenmentoskopie bestätigte den subjektiven Eindruck und bewies, dass
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