Gesammelte Werke 1
dazu, jemandem etwas beweisen zu müssen? Das ist erniedrigend.«
»Ljowa«, sagte ich. »Wenn Sie verängstigten Kindern begegnen, finden Sie es dann auch erniedrigend, Faxen zu machen und den Clown zu spielen, um sie zu beruhigen?«
Zum ersten Mal schaute er mir in die Augen - lange und ohne zu zwinkern. Mir wurde klar, dass er mir kein Wort glaubte. Vor ihm saß ein vor Angst Amok laufender Idiot und gab sich Mühe zu lügen, um ihn wieder an den Rand des Weltalls zu schicken, diesmal für immer und ohne die geringste Hoffnung auf Rückkehr.
»Es ist zwecklos«, sagte er. »Hören Sie mit dem Geschwätz auf und lassen Sie mich in Ruhe. Es ist Zeit für mich.«
Vorsichtig scheuchte er die Eichhörnchen weg und stand auf. Auch ich erhob mich.
»Ljowa«, sagte ich. »Man wird Sie umbringen.«
»Das ist nicht so einfach«, sagte er lässig und setzte seinen Weg auf der Allee fort.
Ich ging neben ihm und redete die ganze Zeit. Gab Unsinn von mir, das wäre ja wohl nicht der Moment, wo man es sich leisten könnte, beleidigt zu sein, dass es doch wohl dumm sei, aus Stolz sein Leben aufs Spiel zu setzen, dass man die Alten ja wohl auch verstehen müsse - seit vierzig Jahren säßen sie wie auf Kohlen … Abalkin schwieg oder gab bissige Antworten. Ein paarmal lächelte er sogar - es schien ihn zu amüsieren, wie ich mich benahm. Wir kamen ans Ende der Allee und bogen in die Fliederstraße ein. Dann gingen wir zum Platz der Sterne.
Es befanden sich schon ziemlich viele Menschen auf der Straße. In meinen Plänen war das nicht vorgesehen, aber es würde auch nicht weiter stören. Schließlich kann jemandem ja auf der Straße schlecht werden, und dann bringt man den
Bewusstlosen zum nächsten Arzt … Anschließend schaffe ich ihn auf unser Raketodrom, das ist nicht weit entfernt - er wird in der Zeit nicht einmal zur Besinnung kommen. Dort sind immer zwei, drei »Gespenster« einsatzbereit. Dahin beordere ich dann auch Maja Glumowa, und zu dritt landen wir auf der grünen Růžena, in meinem alten Lager. Unterwegs werde ich ihr alles erklären - zum Teufel mit dem Persönlichkeitsgeheimnis Lew Abalkins … So, dort am Straßenrand steht ein passender Gleiter. Ist frei. Genau das, was ich brauche …
Als ich wieder zur Besinnung kam, ruhte mein Kopf auf den warmen Knien einer mir unbekannten älteren Frau. Ich fühlte mich, als läge ich auf dem Grund eines Brunnens: Von oben blickten unbekannte Gesichter besorgt auf mich herab; jemand verlangte, sie sollten nicht so drängeln und mir mehr Luft lassen; jemand anders hielt mir fürsorglich eine Ampulle unter die Nase, die stechend roch. Und eine besonnene Stimme äußerte sich dahingehend, dass kein Grund zur Beunruhigung bestünde: Schließlich könne ja jemandem auf der Straße schlecht werden …
Mein ganzer Körper kam mir vor wie ein prall gefüllter Luftballon, der mit leisem Klingen dicht über dem Erdboden schaukelt. Schmerz fühlte ich nicht. Anscheinend war ich auf eine ganz gewöhnliche »Wende nach unten« hereingefallen - aber die Position, aus der heraus Abalkin sie ausgeführt hatte, war ungewöhnlich gewesen, das heißt, so führte eigentlich niemand eine Wende aus …
»Nicht so schlimm, er ist schon zu sich gekommen, es wird wieder …«
»Bleiben Sie liegen, bitte, bleiben Sie liegen, Ihnen ist schlecht geworden …«
»Gleich kommt ein Arzt, Ihr Freund ist losgelaufen, einen zu holen …«
Ich setzte mich auf. Man stützte mich an den Schultern. Noch immer hörte ich dieses Klingen, doch der Kopf war völlig
klar. Ich musste aufstehen, war aber noch nicht in der Lage dazu. Durch die Lücken zwischen den vielen Menschen und Beinen hindurch konnte ich sehen, dass der Gleiter verschwunden war. Und trotzdem: Abalkin hatte es nicht geschafft, die Sache zu Ende zu bringen. Hätte er mich zwei Zentimeter weiter links erwischt, wäre ich bis zum Abend bewusstlos geblieben. Entweder hatte er daneben getroffen, oder bei mir war im letzten Moment ein Schutzreflex in Aktion getreten …
Mit pfeifendem Ton ging neben mir ein Gleiter nieder. Ein hagerer Mann sprang heraus auf die Straße, bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge und fragte: »Was ist passiert? Ich bin Arzt! Was ist los?«
Wie war ich so plötzlich wieder auf die Beine gekommen? Ich weiß es nicht, aber ich sprang auf ihn zu, packte ihn am Ärmel und stieß ihn zu der älteren Frau, die meinen Kopf gehalten hatte und nach wie vor auf dem Boden kniete.
»Der Frau geht es schlecht,
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