Gesammelte Werke 1
das Leben?«
»Das müsste sich erst herausstellen«, murmelte Gai. »Laut Gesetz sind sie alle zum Tode verurteilt. Ohne jede Verhandlung. Du hast ja gesehen, wie das vor sich geht.«
Er blickte den Freund an. Mak schien unschlüssig, verwirrt. Er hat ein gutes Herz, dachte Gai, aber nicht die leiseste Ahnung, und er begreift nicht, dass Härte gegen den Feind nottut. Ihn anschnauzen sollte man, mit der Faust auf den Tisch schlagen, damit er den Mund hält, nicht zu viel redet und auf Ältere hört, solange er sich damit nicht auskennt. Er ist schließlich kein ungebildeter Tölpel; wenn man es ihm vernünftig erklärt, wird er es verstehen.
»Nein«, beharrte Mak eigensinnig. »Gegen Bezahlung hasst man nicht. Sie aber hassen, hassen uns so sehr, ich wusste gar nicht, dass Menschen so hassen können. Du hasst sie weniger als sie dich. Und ich wüsste gern: warum?«
»Hör zu«, sagte Gai, »ich erkläre es dir noch einmal. Erstens sind sie Entartete. Sie hassen überhaupt alle normalen Menschen. Sind von Natur aus bösartig wie Ratten. Und zweitens: Wir stören sie. Sie würden gern ihren Geschäften nachgehen, Geld einstecken, herrlich und in Freuden leben. Wir aber rufen: ›Stopp! Hände hinter den Kopf!‹ Sollen sie uns dafür lieben?«
»Wenn sie alle böse wie Ratten sind, wieso ist es dann dieser Hausbesitzer nicht? Warum hat man ihn laufen lassen, wenn sie doch alle gekauft sind?«
Gai lachte. »Der Hausbesitzer ist ein Feigling. Davon gibt es auch genügend. Sie hassen uns, aber sie haben Angst. Für solche Leute ist es vorteilhafter, sich mit uns gutzustellen; es sind nützliche, sozusagen legale Entartete. Zudem ist er Hausbesitzer, ein reicher Mann, den kauft man nicht so leicht. Das ist etwas anderes als dieser Zahnarzt. Du bist putzig wie ein Kind, Mak. Die Menschen sind nicht alle gleich, und die Entarteten auch nicht …«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Mak ungeduldig. »Was aber den Zahnarzt betrifft: Ich wette meinen Kopf, dass dieser Mann nicht bestechlich ist! Beweisen kann ich’s dir nicht, aber das fühle ich. Er ist ein sehr tapferer, guter Mensch …«
»Ein Entarteter!«
»Einverstanden. Er ist ein tapferer, guter Entarteter. Ich habe seine Bibliothek gesehen. Er ist sehr belesen. Weiß tausendmal mehr als du oder der Rittmeister. Warum ist er gegen uns? Wenn alles so ist, wie du behauptest - wie kann es dann sein, dass dieser gebildete, kulturvolle Mensch es nicht weiß? Weshalb schreit er uns an der Schwelle zum Grab ins Gesicht, er sei für das Volk und gegen uns?«
»Ein gebildeter Entarteter ist ein Entarteter hoch zwei«, dozierte Gai. »Seiner Natur entsprechend hasst er uns, und die Bildung hilft ihm, diesen Hass zu begründen und zu verbreiten. Bildung, mein Freund, ist nicht immer ein Segen. Wie bei der Maschinenpistole kommt es drauf an, in wessen Händen sie liegt.«
»Bildung ist immer ein Segen«, entgegnete Mak überzeugt.
»Da irrst du. Mir wäre es lieber, die Hontianer wären alle ungebildet. Dann könnten wir wenigstens wie Menschen leben und müssten nicht ständig mit einem atomaren Angriff rechnen. Im Handumdrehen hätten wir sie befriedet.«
»Ja«, sagte Mak mit einer merkwürdigen Betonung. »Befrieden - das können wir. Brutalität ist uns nicht abzusprechen.«
»Wieder redest du wie ein Kind. Nicht wir sind brutal - die Zeit ist brutal. Wir kämen gern mit freundlichen Worten und ohne Blutvergießen aus. Es wäre auch billiger. Aber was sollen wir tun? Wenn man sie auf keine andere Weise umstimmen kann.«
»Also haben die Entarteten eine Überzeugung?«, parierte Mak. »Eine echte Überzeugung? Ist aber ein kluger Mensch von seinem Recht überzeugt, was soll ihm dann das Geld der Hontianer?«
Nun reichte es Gai. Er wollte gerade, als letztes Mittel, den Kodex der Väter anführen und diesen dummen, endlosen Streit damit beenden, da unterbrach sich Mak selbst, winkte ab und rief: »Rada! Genug geschlafen! Die Gardisten haben Hunger und sehnen sich nach weiblicher Gesellschaft!«
Zu Gais großer Verwunderung erklang hinter dem Wandschirm Radas Stimme: »Ich bin längst wach. Ihr habt herumgeschrien, meine Herren Gardisten, als wärt ihr auf eurem Übungsplatz.«
»Warum bist du zu Hause!«, fuhr Gai sie an.
Rada trat hinter dem Schirm hervor, schloss im Gehen die Knöpfe ihres Hauskleids.
»Ich bin entlassen«, erklärte sie. »Mutter Täj hat eine Erbschaft gemacht, ihr Etablissement geschlossen und zieht jetzt aufs Land. Aber sie hat
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