Gesammelte Werke 1
Lehrbuch heraus und blätterte darin, im Stehen, die Schulter gegen den Kleiderschrank gelehnt. Jetzt setzte sich Rada zu ihrem Bruder, begann zu stricken und verfolgte mit halbem Auge das Fernsehprogramm. Im Haus wurde es ruhig und friedlich. Gai nickte ein.
Er träumte unsinniges Zeug: In einem eisernen Tunnel fing er zwei Entartete, verhörte sie und merkte plötzlich, dass einer von ihnen Mak war. Der andere sagte, mild und gutherzig
lächelnd: »Du hast die ganze Zeit geirrt, Gai. Du gehörst zu uns. Der Rittmeister ist ein professioneller Mörder, ohne Patriotismus, ohne wahre Treue. Er tötet gern, so wie du gern Garnelensuppe isst.« Und Gai drückten Zweifel, er fühlte, gleich würde er alles verstehen. Noch eine Sekunde, und keine einzige Frage wäre mehr offen. Diese ungewohnte Empfindung quälte ihn so sehr, dass sein Herzschlag aussetzte und er erwachte.
Rada und Mak plauderten leise über Nichtigkeiten - das Baden im Meer, den Sand, die Muscheln. Gai aber hörte nicht zu. Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, er könne tatsächlich zu Zweifeln fähig sein, zum Schwanken, zur Unsicherheit. Im Traum hatte er gezweifelt. Bedeutete das nun, dass er auch in Wirklichkeit unter diesen Umständen unsicher wäre? Einige Zeit versuchte er, sich des Traumes in allen Einzelheiten zu erinnern, aber er entglitt ihm, wie Seife aus nassen Händen. Am Ende erschien er ihm ganz und gar unwahrscheinlich, und Gai dachte erleichtert, es seien wohl doch nur Hirngespinste gewesen. Als Rada sah, dass er nicht schlief, fragte sie ihn, was er für besser halte, Meer oder Fluss, und Gai antwortete militärisch knapp, im Stil des alten Doga: »Am besten ist ein gutes Schwitzbad.«
Im Fernsehen lief jetzt Ornamente . Es war langweilig. Gai schlug vor, Bier zu trinken. Rada ging in die Küche und holte zwei Flaschen aus dem Kühlschrank. Sie sprachen über dies und jenes, wobei sich herausstellte, dass Mak in der vergangenen halben Stunde ein komplettes Lehrbuch der Geopolitik durchgearbeitet hatte. Rada war begeistert. Gai aber wollte es nicht glauben. Er behauptete, in dieser Zeit hätte man das Buch durchblättern, bestenfalls den Text überfliegen können - allerdings rein mechanisch und ohne etwas zu verstehen oder sich gar etwas zu merken. Mak schlug eine Prüfung vor, und Gai erklärte sich bereit. Sie schlossen folgende Wette: Der Verlierer sollte zu Onkelchen Kaan gehen und ihm sagen,
Kollege Schapschu sei ein kluger Mann und ein hervorragender Wissenschaftler. Gai öffnete das Lehrbuch, fand am Ende eines Kapitels Kontrollfragen und begann: »Worin besteht die moralische Größe der Nordexpansion unseres Staates?« Mak antwortete mit eigenen Worten, blieb jedoch sehr nahe am Text und fügte hinzu, von moralischer Größe könne seiner Meinung nach keine Rede sein, entscheidend sei die Aggressivität der Regimes in Honti und Pandea. Gai fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, feuchtete einen Finger an und überschlug einige Seiten. »Wie hoch ist die mittlere Getreideernte in den nordwestlichen Gebieten?« Mak lachte und sagte, Daten über die nordwestlichen Gebiete gebe es nicht. Es war unmöglich, ihm eine Falle zu stellen. Rada jubelte und streckte dem Bruder die Zunge heraus. »Welcher spezifische demografische Druck besteht im Mündungsgebiet der Blauen Schlange?«, fragte Gai. Mak nannte die Zahl, auch die Toleranzquote, und versäumte nicht hinzuzufügen, dass er die Bezeichnung »demografischer Druck« vage finde. Jedenfalls begreife er nicht, weshalb sie eingeführt worden sei. Gai begann ihm zu erklären, dass »demografischer Druck« die Maßeinheit für die Aggressivität sei, doch da fiel ihm Rada ins Wort: Er lenke ab und wolle sich wohl vor der weiteren Prüfung drücken, weil er am Verlieren sei.
Gai hatte tatsächlich überhaupt keine Lust, zu Onkel Kaan zu gehen. Und um Zeit zu gewinnen, fing er einen Streit mit Rada an. Mak hörte eine Weile zu und sagte dann ganz unvermittelt, Rada dürfe keinesfalls wieder als Kellnerin arbeiten - sie müsse studieren. Froh über den Themenwechsel, rief Gai, er habe das schon tausendmal gesagt und ihr vorgeschlagen, sich um Aufnahme in das Frauenkorps der Garde zu bemühen, wo man einen wahrhaft nützlichen Menschen aus ihr machen werde. Weiter kamen sie in diesem Gespräch nicht; Mak schüttelte nur den Kopf, und Rada äußerte sich, wie auch schon früher, sehr respektlos über das Frauenkorps.
Gai aber wollte nicht streiten; er warf das Lehrbuch hin,
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