Gesammelte Werke
man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht.
Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht.
Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze.
Aber ich kann auch nichts beweisen.
Und ich bin sogar davon überzeugt, daß ein Mensch, der dem nachgibt, verloren ist. Er gerät in Dämmerung. In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile.
Wenn du das Eindeutige aus unserem Leben fortnimmst, so bleibt ein Karpfenteich ohne Hecht.
Ich glaube, daß das Hundsgemeine dann sogar unser guter Geist ist, der uns schützt!
Ich glaube also nicht!
Ich glaube aber vor allem nicht an die Bindung von Bös durch Gut, die unser Kulturgemisch darstellt: das ist mir widerwärtig!
Ich glaube also und glaube nicht!
Aber ich glaube vielleicht, daß die Menschen in einiger Zeit einesteils sehr intelligent, andernteils Mystiker sein werden. Vielleicht geschieht es, daß sich unsere Moral schon heute in diese zwei Bestandteile zerlegt. Ich könnte auch sagen: in Mathematik und Mystik. In praktische Melioration und unbekanntes Abenteuer!»
Er war seit Jahren nicht so offen aufgeregt gewesen. Die «Vielleicht» in seiner Rede empfand er nicht, die erschienen ihm nur natürlich.
Agathe hatte sich indessen vor den Ofen gekniet; sie hatte den Packen von Bildern und Schriften neben sich auf der Erde, sah jedes einzelne Stück noch einmal an und schob es dann ins Feuer. Sie war nicht ganz unempfindlich gegen die gemeine Sinnlichkeit dieser Unanständigkeiten, die sie betrachtete. Sie fühlte ihren Körper von ihnen erregt. Es kam ihr vor, daß sie das so wenig selbst sei, wie wenn man in einer starren Einöde irgendwo ein Kaninchen huschen fühlt. Sie wußte nicht, ob sie sich vor ihrem Bruder schämen müßte, wenn sie ihm das sagte; aber sie war zuinnerst müde und wollte nichts mehr reden. Sie hörte auch nicht auf das, was er sagte; ihr Herz war von diesem Auf und Ab schon zu sehr geschüttelt worden und konnte nicht mehr folgen. Immer hatten ja andere besser gewußt als sie, was recht wäre; daran dachte sie, aber es geschah, vielleicht weil sie sich schämte, mit einem geheimen Trotz. Einen unerlaubten oder geheimen Weg zu gehn: darin fühlte sie sich Ulrich überlegen. Sie hörte, wie er immer wieder vorsichtig alles zurücknahm, wozu er sich hinreißen ließ, und seine Worte schlugen wie große Tropfen von Glück und Traurigkeit an ihr Ohr.
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13
Ulrich kehrt zurück und wird durch den General von allem unterrichtet, was er versäumt hat
Achtundvierzig Stunden später stand Ulrich in seiner verlassenen Wohnung. Es war früh am Vormittag. Die Wohnung war sorgfältig aufgeräumt, abgestaubt und blank; und genau so, wie er seine Bücher und Schriften bei seiner hastigen Abreise auf den Tischen liegen gelassen hatte, lagen sie, von dienender Hand erhalten, noch dort, aufgeschlagen oder von unverständlich gewordenen Lesezeichen durchpfeilt, dieses und jenes Papier sogar noch mit einem Bleistift zwischen den Seiten, den er aus der Hand gelegt hatte. Aber alles war ausgekühlt und erstarrt wie der Inhalt eines Schmelztiegels, unter dem man das Feuer zu nähren vergessen hat. Schmerzhaft ernüchtert und verständnislos bückte Ulrich auf den Abdruck einer vergangenen Stunde, Matrize heftiger Erregungen und Gedanken, von denen sie ausgefüllt worden. Er fühlte einen unsäglichen Widerwillen, mit diesen Resten seiner selbst in Berührung zu kommen. «Das erstreckt sich jetzt» dachte er «durch die Türen über das ganze Haus bis zu dem Blödsinn der Hirschgeweihe unten in der Halle. Welch ein Leben habe ich im letzten Jahr geführt!» Er schloß, so wie er stand, die Augen, um nichts sehen zu müssen. «Wie gut, daß sie mir bald nachkommen wird, wir werden hier alles anders machen!» dachte er. Und dann lockte es ihn doch, sich die letzten Stunden zu vergegenwärtigen, die er hier zugebracht hatte; es kam ihm vor, er sei unendlich lang weggewesen, und er wollte vergleichen. Clarisse: das war nichts. Aber vorher und nachher: die sonderbare Aufregung, in der er nach Hause geeilt war, und dann jenes übernächtige Zerschmelzen der Welt! «So, wie Eisen, wenn es unter einer ganz großen Kraft weich wird» überlegte er. «Es beginnt zu fließen und bleibt doch Eisen. Ein Mann dringt mit Kraft in die
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