Gesammelte Werke
Papiere unter seinen Händen. «Und Gesetz, Recht, Maß? Meinst du, das sei ganz überflüssig?
«Also bis zu welchem Grad glaubst du?» wiederholte Agathe.
«Ja und nein» sagte Ulrich.
«Also nein» vollendete Agathe.
Da war es ein Zufall, der ins Gespräch eingriff; als Ulrich, der weder Lust hatte, die Unterredung neu aufzunehmen, noch ruhig genug war, geschäftlich zu denken, in diesem Augenblick die vor ihm ausgebreiteten Schriften zusammenraffte, fiel etwas zur Erde. Es war ein loser Packen von allerhand Dingen, der versehentlich mit dem Vermächtnis aus einer Ecke der Schreibtischlade hervorgekommen war, wo er wohl jahrzehntelang gelegen haben mochte, ohne daß es sein Besitzer wußte. Ulrich betrachtete zerstreut, was er von der Erde aufhob, und erkannte auf einzelnen Blättern die Handschrift seines Vaters; aber es war nicht die Altersschrift, sondern die der Mannesjahre, er sah genauer hin, nahm außer beschriebenen Papieren noch Spielkarten, Photographien und allerhand kleinen Kram wahr und begriff nun rasch, was er gefunden habe. Es war die «Giftlade» des Schreibtisches. Da fanden sich sorgsam aufgeschriebene, meist zotige Witze; Aktaufnahmen; unter Verschluß zu versendende Postkarten mit prallen Sennerinnen, denen man hinten die Hosen öffnen konnte; Kartenspiele, die ganz ordentlich aussahen, aber, gegen das Licht gehalten, fürchterliche Dinge zeigten; Männchen, die allerhand von sich gaben, wenn man sie auf den Bauch drückte; und dergleichen mehr. Sicher hatte der alte Herr gar nichts mehr von den Dingen gewußt, die da in der Lade lagen, denn sonst hätte er sie rechtzeitig vernichtet. Sie stammten offenbar noch aus den Mannesjahren, wo sich nicht wenige alternde Junggesellen und Witwer an solchen Schamlosigkeiten wärmen, aber Ulrich errötete vor der unverwahrt zurückgelassenen Phantasie seines Vaters, die der Tod vom Fleische gelöst hatte. Der Zusammenhang mit dem abgebrochenen Gespräch war ihm augenblicklich klar. Trotzdem war es sein erster Antrieb, diese Urkunden zu vernichten, ehe Agathe sie gesehen habe. Aber Agathe hatte schon gesehn, daß ihm etwas Ungewöhnliches in die Hand geraten sei, so daß er sich plötzlich anders besann und sie heranrief.
Er wollte abwarten, was sie sage. Mit einemmal war er wieder von dem Gedanken beherrscht, daß sie doch eine Frau sei, die Erfahrungen haben müsse, was während der tieferen Gespräche ganz aus dem Bewußtsein gewesen war. Aber ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie denke; sie sah ernst und ruhig den illegalen Nachlaß ihres Vaters an, und zuweilen lächelte sie offen, aber doch auch wieder nicht lebhaft. So fing Ulrich trotz seines Vorsatzes selbst an. «Das ist der letzte Rest der Mystik!» sagte er ärgerlich-lustig. «In der gleichen Lade liegen da die strengen sittlichen Ermahnungen des Testaments und diese Jauche!» Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Und er hatte kaum zu sprechen begonnen, so riß ihn das Schweigen seiner Schwester zu neuen Worten hin.
«Du hast mich gefragt, was ich glaube» begann er. «Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind.
Ich glaube, daß keine richtig sind.
Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte.
Ich glaube, daß nichts zu Ende ist.
Ich glaube, daß nichts im Gleichgewicht steht, sondern daß alles sich aneinander erst heben möchte.
Das glaube ich; das ist mit mir geboren worden oder ich mit ihm.»
Nach jedem Satz war er stehen geblieben, denn er sprach nicht laut und mußte doch durch irgend etwas seinem Bekenntnis Nachdruck geben. Sein Auge blieb jetzt an den klassischen Gipsgebilden hängen, die oben auf den Bücherborden standen; er sah eine Minerva, einen Sokrates; er erinnerte sich daran, daß Goethe einen überlebensgroßen Gipskopf der Juno in sein Zimmer gestellt hat. Beängstigend fern kam ihm diese Vorliebe vor: was einst blühende Idee gewesen, war seitdem zu einem toten Klassizismus eingegangen. War zur nachzüglerhaften Recht- und Pflichthaberei der Zeitgenossen seines Vaters geworden. War vergeblich gewesen. «Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist,» sagte er «und uns keinen anderen Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!
Ich bin, wie es scheint, ohne mein Zutun mit einer anderen Moral geboren worden.
Du hast mich gefragt, was ich glaube! Ich glaube,
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