Gesammelte Werke
gelang es aber, dieses Mißtrauen durch ihr ehrgeiziges Verhalten zu mildern, das der besonders wohlerzogenen Aufführung ungeratener Kinder in einer Umgebung entsprach, die ihren sittlichen Wetteifer weckt. Sie vergaß sogar darüber, daß sie auf Diotima eifersüchtig sei, und diese bemerkte mit Staunen, daß ihr beunruhigender Schützling ebenso für das Ideale eingenommen sei wie sie selbst. Denn da war «die gestrauchelte Schwester», wie sie nun hieß, schon zum Schützling geworden, und bald wandte ihr Diotima eine besonders tätige Teilnahme zu, weil sie sich durch ihre eigene Lage dazu gebracht fühlte, in dem würdelosen Geheimnis der Mannstollheit eine Art weiblichen Damoklesschwertes zu sehn, von dem sie sagte, daß es an einem dünnen Faden selbst über dem Haupte einer Genoveva schweben könne. «Ich weiß, mein Kind,» belehrte sie tröstend die ungefähr gleichaltrige Bonadea «es ist nichts so tragisch wie einen Menschen zu umarmen, von dem man nicht innerlich überzeugt ist!» und küßte sie mit einem Aufwand an Mut auf den unkeuschen Mund, der hingereicht hätte, ihre Lippen zwischen die blutrünstigen Bartstacheln eines Löwen zu pressen.
Die Lage, in der sich Diotima damals befand, war aber die zwischen Arnheim und Tuzzi: eine wagrechte Lage, ließe sich bildhaft sagen, auf die der eine zuviel, der andere zuwenig Gewicht legte. Bei seiner Rückkunft hatte ja selbst Ulrich seine Kusine noch mit einer Kopfbinde und gewärmten Tüchern angetroffen; aber diese weiblichen Plagen, deren Stärke sie ahnend als den Einspruch ihres Körpers gegen die widerspruchsvollen Anleitungen begriff, die er von der Seele erhielte, hatten in Diotima auch jene edle Entschlossenheit wachgerufen, die ihr eigen war, sobald sie nicht so sein wollte, wie jede andere Frau. Es war anfangs freilich fraglich, ob diese Aufgabe von der Seele oder vom Körper her in Angriff zu nehmen, ob sie besser durch eine Veränderung des Verhaltens gegen Arnheim oder gegen Tuzzi zu beantworten sei; aber das entschied sich mit Hilfe der Welt, denn während ihr die Seele und deren Liebesrätsel wie ein Fisch entschlüpften, den man in der bloßen Hand halten will, fand die suchende Leidende zu ihrer Überraschung reichlichen Rat in den Büchern des Zeitgeistes, als sie sich zum erstenmal entschlossen hatte, ihr Schicksal am körperlichen anderen Ende anzupacken, das durch ihren Gatten dargestellt wurde. Sie hatte nicht gewußt, daß unsere Zeit, der sich vermutlich der Begriff der Liebesleidenschaft entrückt hat, weil er eher ein religiöser als ein sexueller ist, es als kindisch verschmäht, sich noch mit der Liebe zu beschäftigen, dafür aber ihre Anstrengungen an die Ehe wendet, deren natürliche Vorgänge sie in allen Abwandlungen mit frischer Ausführlichkeit untersucht. Schon damals waren viele jener Bücher entstanden, die mit dem reinen Sinn eines Turnlehrers von den «Umwälzungen im Geschlechtsleben» sprechen und den Menschen dazu verhelfen wollen, verheiratet und dennoch vergnügt zu sein. In diesen Büchern hießen Mann und Frau nur noch «der männliche und der weibliche Keimträger» oder auch «die Geschlechtspartner», und die Langweile, die zwischen ihnen durch allerhand geistig-körperliche Abwechslung vertrieben werden sollte, taufte man «das sexuelle Problem». Als Diotima in diese Literatur eindrang, krauste sich ihr erst die Stirn, dann aber glättete sich diese; denn es war ein Stoß in den Ehrgeiz, daß ihr eine beginnende große Bewegung des Zeitgeistes bisher entgangen sei, und endlich faßte sich die Hingerissene an die Stirn vor Staunen darüber, daß sie es wohl verstanden habe, der Welt ein Ziel zu schenken (wenn auch noch immer nicht entschieden war, welches), aber noch nie darauf gekommen sei, daß man auch die entnervenden Unannehmlichkeiten der Ehe mit geistiger Überlegenheit behandeln könne. Diese Möglichkeit entsprach sehr ihren Neigungen und gab ihr plötzlich die Aussicht, das Verhältnis zu ihrem Gatten, das sie bisher nur als ein Leiden empfunden hatte, als eine Wissenschaft und Kunst zu behandeln.
«Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt» meinte Bonadea und bekräftigte es mit der ihr eigenen Vorliebe für Gemeinplätze und für Zitate. Denn es war dann so gekommen, daß sie bald von der schutzbereiten Diotima als deren Schülerin in solchen Fragen angenommen und behandelt wurde. Das geschah nach dem pädagogischen Grundsatz, zu lernen, indem man lehrt, und verhalf
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