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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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blickte zurück, konnte aber, weil sich der Weg um ein Haus gebogen hatte, nichts mehr sehen und stolperte wie ein Kind, das den Kopf abwendet, hinter ihren Begleitern weiter. Aus der Folge von Eindrücken, die damit begannen, bildete sich nun nicht mehr der durchsichtig strömende Bach von Geschehnissen, als den man das Leben hinnimmt, sondern ein schaumiges Wirbeln, aus dem sich bloß gelegentlich glatte Flächen hervorhoben und im Gedächtnis verharrten.
    «Gleichfalls eine ‹Ruhige Abteilung›. Diesmal für Männer» erläuterte Dr. Friedenthal, der an der Pforte des Hauses seine Gefolgschaft sammelte, und als sie vor dem ersten Krankenbett haltmachten, stellte er seinen Insassen den Besuchern mit höflich gedämpfter Stimme als «Depressive Dementia paralytica» vor. «Ein alter Syphilitiker. Versündigungs- und nihilistische Wahnideen» flüsterte Siegmund, das Wort erklärend, seiner Schwester zu. Clarisse befand sich einem alten Herrn gegenüber, der allem Anschein nach einst der höheren Gesellschaft angehört hatte. Er saß aufrecht im Bett, mochte Ende der Fünfzig sein und hatte eine sehr weiße Gesichtshaut. Ebenso weißes, reiches Haar umrahmte sein gepflegtes und durchgeistigtes Antlitz, das so unwahrscheinlich edel aussah, wie man es nur in den schlechtesten Romanen beschrieben liest. «Kann man den nicht malen lassen?» fragte Stumm von Bordwehr. «Die leibhaftige Geistesschönheit: das Bild möchte ich deiner Kusine schenken!» erklärte er Ulrich. Dr. Friedenthal lächelte schwermütig dazu und erläuterte: «Der edle Ausdruck kommt vom Nachlassen der Spannung in den Gesichtsmuskeln.» Dann zeigte er den Besuchern mit einer flüchtigen Handbewegung noch die reflektorische Pupillenstarre und führte sie weiter. Die Zeit war knapp bei der Fülle des Materials. Der alte Herr, der schwermütig zu allem genickt hatte, was an seinem Bett gesprochen wurde, antwortete noch leise und bekümmert, als die fünf schon einige Betten weiter beim nächsten Fall haltmachten, den Friedenthal ausersehen hatte.
    Diesmal war es einer, der selbst der Kunst oblag, ein fröhlicher dicker Maler, dessen Bett nahe beim hellen Fenster stand; er hatte Papier und viele Bleistifte auf seiner Decke liegen und beschäftigte sich damit den ganzen Tag. Was Clarisse gleich auffiel, war die heitere Ruhelosigkeit dieser Bewegung. «So sollte Walter malen!» dachte sie. Friedenthal, der ihre Anteilnahme gewahrte, entwendete dem Dicken rasch ein Blatt und reichte es Clarisse; der Maler kicherte und gehabte sich wie ein Weibsbild, das man gekniffen hat. Clarisse sah aber zu ihrer Überraschung einen vollendet sicher gezeichneten, durchaus sinnvollen, ja im Sinn sogar banalen Entwurf zu einem großen Gemälde vor sich, mit vielen perspektivisch ineinander verwickelten Figuren und einem Saal, dessen Anblick peinlich genau ausgeführt war, so daß das Ganze derart gesund und professoral wirkte, als käme es aus der Staatsakademie. «Überraschend gekonnt!»rief sie unwillkürlich aus.
    Friedenthal aber lächelte geschmeichelt.
    «Etsch!» rief ihm trotzdem der Maler zu. «Siehst du, dem Herrn gefällt es! Zeig ihm doch mehr! Überraschend gut hat er gesagt! Zeig ihm nur! Ich weiß schon, du lachst bloß über mich, aber ihm gefällt es!» Er sagte das gemütlich und schien mit dem Arzt, dem er nun auch seine anderen Bilder hinhielt, auf gutem Fuß zu stehn, obwohl dieser seine Kunst nicht würdigte.
    «Wir haben heute keine Zeit für dich» erwiderte ihm Friedenthal, und zu Clarisse gewandt, faßte er seine Kritik in die Worte: «Er ist nicht schizophren; leider haben wir im Augenblick keinen andern, das sind oft große, ganz moderne Künstler.»
    «Und krank?» zweifelte Clarisse.
    «Weshalb nicht?» erwiderte Friedenthal schwermütig. Clarisse biß die Lippe.
    Indessen standen Stumm und Ulrich schon an der Schwelle des nächsten Raumes, und der General sagte: «Wenn ich das seh, tut es mir wirklich leid, daß ich meine Ordonnanz vorhin einen Trottel geschimpft hab; ich will es auch nie wieder tun!» Sie blickten nämlich in ein Zimmer mit schweren Idioten.
    Clarisse sah es noch nicht und dachte: «Sogar eine so ehrbare und anerkannte Kunst wie die akademische hat also ihre verleugnete, beraubte, dennoch zum Verwechseln ähnliche Schwester im Irrenhaus?!» Es machte ihr beinahe mehr Eindruck als die Bemerkung Friedenthals, daß er ihr ein andermal expressionistische Künstler zeigen könne. Aber sie nahm sich vor, auch darauf

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