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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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zurückzukommen. Sie hatte den Kopf gesenkt und biß immer noch auf ihre Lippe. Da stimmte etwas nicht. Es erschien ihr offenkundig falsch, so begabte Menschen einzusperren; die Ärzte verstünden ja wohl die Krankheiten, dachte sie, aber wahrscheinlich doch nicht in ihrer ganzen Tragweite die Kunst. Sie hatte das Gefühl, daß da etwas geschehen müsse. Aber es wollte ihr noch nicht klar werden was. Doch verlor sie nicht die Zuversicht, denn der dicke Maler hatte sie gleich als «Herr» angesprochen: das kam ihr als ein gutes Zeichen vor.
    Friedenthal betrachtete sie mit Neugierde.
    Als sie seinen Blick fühlte, sah sie mit ihrem schmalen Lächeln auf und ging zu ihm, aber ehe sie etwas sagen konnte, löschte ein furchtbarer Eindruck alle Überlegung aus. In ihren Betten hing und saß in dem neuen Zimmer eine Reihe des Grauens. Alles an den Körpern schief, unsauber, verbildet oder gelähmt. Entartete Gebisse. Wackelnde Köpfe. Zu große, zu kleine und ganz verwachsene Köpfe. Schlaff herabhängende Kiefer, aus denen Speichel troff, oder tierisch malmende Bewegungen des Mundes, in dem weder Speise noch Wort war. Meterdicke Bleibarren schienen zwischen diesen Seelen und der Welt zu liegen, und nach dem leisen Lachen und Schwirren in dem andern Zimmer fiel auch ins Ohr ein dumpfes Schweigen, in dem es nur dunkel grunzende und murrende Laute gab. Solche Säle mit Idioten hohen Grades gehören zu den erschütterndsten Eindrücken, die man in der Häßlichkeit des Irrenhauses findet, und Clarisse fühlte sich einfach in ein völliges grauenvolles Schwarz gestürzt, darin nichts mehr zu unterscheiden war.
    Der Führer Friedenthal aber sah auch im Dunkeln, und auf verschiedene Betten weisend, erklärte er: «Das ist Idiotie, und das hier ist Kretinismus.»
    Stumm von Bordwehr horchte auf: «Ein Kretin und ein Idiot sind nicht dasselbe?!» fragte er.
    «Nein, das ist medizinisch etwas Verschiedenes» belehrte ihn der Arzt. «Interessant» sagte Stumm. «Auf so etwas kommt man im gewöhnlichen Leben gar nicht!»
    Clarisse ging von Bett zu Bett. Sie bohrte ihre Augen in die Kranken und strengte sie aufs äußerste an, ohne von diesen Gesichtern, die von ihr nicht Kenntnis nahmen, auch nur das Geringste zu verstehn. Alle Einbildungen erloschen daran. Dr. Friedenthal folgte ihr leise und erklärte: «Amaurotische familiäre Idiotie». «Tuberöse hypertrophische Sklerose». «Idiotia thymica» ...
    Der General, der inzwischen genug von den «Trotteln» gesehen zu haben vermeinte und das gleiche von Ulrich voraussetzte, blickte auf die Uhr und sagte: «Wo sind wir denn eigentlich stehen geblieben? Wir müssen die Zeit ausnutzen!» Und etwas unvermutet fing er an: «Also erinnere dich, bitte: Das Kriegsministerium gewahrt auf seiner einen Seite die Pazifisten und auf der andern die Nationalisten –»
    Ulrich, der sich nicht so gelenkig wie er von der Bindung an die Umgebung loslösen konnte, sah ihn ohne Verständnis an.
    «Aber ich mach doch keine Witze!»erklärte Stumm. «Das ist Politik, was ich rede! Es muß etwas geschehn. Dabei sind wir doch schon einmal stehen geblieben. Wenn nicht bald etwas geschieht, kommt der Geburtstag vom Kaiser, und wir sind blamiert. Aber was soll geschehn? Diese Frage ist logisch, nicht wahr» Und wenn ich das jetzt etwas grob zusammenfasse, was ich dir alles schon gesagt hab, so verlangen die einen von uns, wir sollen ihnen helfen, alle Menschen zu lieben, und die zweiten, wir sollen ihnen erlauben, die andern zu kujonieren, damit das edlere Blut siegt, oder wie man das nennen will. Beides hat etwas für sich. Und darum solltest du es, kurz gesagt, irgendwie vereinen, damit kein Schaden entsteht!»
    «Ich?» verwahrte sich Ulrich, nachdem sein Freund dergestalt seine Bombe platzen ließ, und würde ihn ausgelacht haben, wenn es der Ort gestattet hätte. «Natürlich du!» erwiderte der General fest. «Ich will dir gern beistehn, aber du bist der Sekretär der Aktion und die rechte Hand vom Leinsdorf!»
    «Ich werde dir hier eine Unterkunft besorgen!» erklärte Ulrich entschieden.
    «Schön!» meinte der General, der aus der Kriegskunst wußte, daß man einem unerwarteten Widerstand am besten ausweiche, ohne sich bestürzt zu zeigen. «Wenn du mir hier einen Platz besorgst, lerne ich vielleicht doch jemand kennen, der die größte Idee von der Welt erfunden hat. Draußen haben sie ohnehin keine Freude mehr an den großen Gedanken.» Er sah wieder nach der Uhr. «Da soll es doch welche geben,

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