Gesammelte Werke
denkt, wozu ihn unbewußte Ströme des Verlangens oder die sanftere Brise der Lust treiben, wie man heute annimmt? Ob er nicht doch eher der Vernunft und dem Willen folgt, – wie man gleichfalls heute annimmt? Ob er bestimmten Affekten besonders folgt, so dem geschlechtlichen, wie man heute annimmt? Oder doch nicht vor allem dem geschlechtlichen, sondern der psychologischen Wirkung wirtschaftlicher Bedingungen, wie man gleichfalls heute annimmt? Man kann ein so verwickeltes Gebilde, wie er es ist, von vielen Seiten ansehn und im theoretischen Bild das oder jenes als Achse wählen: es entstehen Teilwahrheiten, aus deren gegenseitiger Durchdringung langsam die Wahrheit höher wächst: Wächst sie aber wirklich höher? Es hat sich noch jedesmal gerächt, wenn man eine Teilwahrheit für das allein Gültige angesehen hat. Anderseits wäre man aber kaum zu dieser Teilwahrheit gelangt, hätte man sie nicht überschätzt. So hängt die Geschichte der Wahrheit und die des Gefühls mannigfach zusammen, aber die des Gefühls blieb dabei im Dunkel. Ja, nach Ulrichs Überzeugung war sie gar keine Geschichte, sondern ein Wust. Spaßig zum Beispiel, daß die religiösen, und also doch wohl leidenschaftlichen, Gedanken, die sich das Mittelalter über den Menschen gemacht hat, sehr von seiner Vernunft und seinem Willen überzeugt waren, während heute viele Gelehrte, deren Leidenschaft höchstens darin besteht, daß sie zuviel rauchen, das Gefühl für die Grundlage alles Menschlichen ansehn. Solche Gedanken gingen Ulrich durch den Kopf, und er hatte natürlich keine Lust, auf Stumms Reden zu antworten, der übrigens auch gar nicht darauf wartete, sondern sich nur noch etwas auskühlte, ehe er sich entschloß, seinen Weg zurück zu nehmen.
«Graf Leinsdorf!» sagte Ulrich sanft. «Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen einmal den Rat gegeben habe, ein Generalsekretariat für alle Fragen zu gründen, zu denen man ebensoviel Seele wie Genauigkeit braucht?»
«Freilich erinnere ich mich» gab Leinsdorf zur Antwort. «Ich hab das ja Seiner Eminenz erzählt, er hat herzlich gelacht. Er hat aber gesagt, daß Sie zu spät kommen!»
«Und doch ist es gerade das, was Sie vorhin vermißt haben, Erlaucht!» fuhr Ulrich fort. «Sie bemerken, daß die Welt sich heute nicht mehr an das erinnert, was sie gestern gewollt hat, daß sie sich in Stimmungen befindet, die ohne zureichenden Grund wechseln, daß sie ewig aufgeregt ist, daß sie nie zu einem Ergebnis kommt, und wenn man sich das in einem einzigen Kopf vereinigt dächte, was so in den Köpfen der Menschheit vorgeht, würde er wirklich unverkennbar eine ganze Reihe von bekannten Ausfallserscheinungen zeigen, die man zur geistigen Minderwertigkeit rechnet –»
«Hervorragend richtig!» rief Stumm von Bordwehr, der sich durch den Stolz auf seine nachmittags erworbenen Kenntnisse von neuem festgehalten sah. «Das ist genau das Bild der – na, ich hab wieder vergessen, wie diese Geisteskrankheit heißt, aber es ist genau ihr Bild!»
«Nein,» sagte Ulrich lächelnd «das ist sicher nicht das Bild einer bestimmten Geisteskrankheit; denn was einen Gesunden von einem Geisteskranken unterscheidet, ist doch gerade, daß der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat, und der Geisteskranke nur eine!»
«Sehr geistvoll!» riefen Stumm und Leinsdorf wie aus einem Munde, wenn auch in etwas verschiedenen Worten, aus, und dann fügten sie ebenso hinzu: – «Aber was soll es eigentlich heißen?»
«Das heißt» behauptete Ulrich: «Wenn ich unter Moral die Regelung aller jener Beziehungen verstehen darf, die Gefühl, Phantasie und dergleichen einschließen, so richtet sich darin der einzelne nach den anderen und hat auf diese Weise scheinbar einige Festigkeit aber alle zusammen sind in der Moral über den Zustand des Wahns nicht hinaus!»
«Na, das geht zu weit!» meinte Graf Leinsdorf gutmütig, und auch der General sagte: «Aber hör, jeder Mensch muß doch selbst seine Moral haben; man kann doch keinem vorschreiben, ob er eine Katz lieber hat oder einen Hund!»
«Kann man es ihm vorschreiben, Erlaucht?!» fragte Ulrich eindringlich.
«Ja, früher» sagte Graf Leinsdorf diplomatisch, obwohl bei seiner gläubigen Überzeugung gepackt, daß es auf allen Gebieten «das Wahre» gebe «früher war das besser. Aber heutzutage?»
«Dann bleibt eben der Glaubenskrieg in Permanenz» meinte Ulrich.
«Sie nennen das einen Glaubenskrieg?» fragte Leinsdorf neugierig.
«Wie denn sonst?»
«Na ja, gar nicht
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