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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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und man meint nicht im geringsten damit, daß nun das, was Gefühlssache sei, wirklich dem Belieben überlassen bleibe; vielmehr gibt es ja, ohne daß die Grenze eindeutig wäre, erlaubte und unerlaubte Gefühlssachen.»
    Die zwischen Ulrich und Agathe war eine unerlaubte, obwohl die beiden, die sich Arm in Arm vergeblich nach einem Versteck umsahen, bloß über die Versammlung sprachen und dabei in einer wilden und verschwiegenen Weise die Freude empfanden, nach ihrer Entzweiung wieder vereint zu sein. Dagegen war die Wahl, ob man seine Mitmenschen alle lieben oder vorher einen Teil von ihnen vernichten solle, offenbar Gefühlssache von zweifacher Erlaubtheit, denn sonst wäre sie nicht in Diotimas Haus und in Gegenwart Sr. Erlaucht so eifrig abgehandelt worden, obwohl sie noch dazu die Gesellschaft in zwei gehässige Parteien trennte. Ulrich behauptete, die Erfindung der «Gefühlssache» habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. «Ich weiß freilich nicht,» sagte er «womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?»
    «Bitte» erwiderte Agathe.
    «Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken.»
    «Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!» entgegnete Agathe lachend. «Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!»
    «Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat –»
    «Das wäre die schönste!» sagte Agathe.
    «Die wahrscheinlichste ist aber,» betonte Ulrich «daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! –»
    «Das ist reizend von ihr» sagte Agathe. «Aber weißt du, daß ich heute einen guten Menschen gefunden habe?»
    Ulrich war etwas erstaunt über diese Unterbrechung, aber als ihm Agathe die Begegnung mit Lindner zu erzählen begann, suchte er sie zunächst in seinem Gedankengang unterzubringen: «Gute Menschen kannst du heute auch hier zu Dutzenden finden,» meinte er «aber du sollst erfahren, warum gleich auch die bösen dabei sind, wenn du mich noch eine Weile fortfahren läßt.»
    Sie waren unter diesen Worten, dem Trubel auszuweichen, bis ans Vorzimmer gekommen, und Ulrich mußte überlegen, wohin sie sich wenden könnten; Diotimas Zimmer fiel ihm ein, ebenso Rachels Kammer, aber er wollte beide nicht wieder betreten, und so blieben Agathe und er einstweilen zwischen den menschenleeren Kleidungsstücken stehn, die in der Diele hingen. Ulrich fand keine Fortsetzung. «Ich müßte eigentlich noch einmal von vorn anfangen» erklärte er mit einer ungeduldigen und ratlosen Bewegung. Und plötzlich sagte er: «Du willst nicht wissen, ob du Gutes oder Böses getan hast, sondern dich beunruhigt es, daß du beides ohne einen festen Grund tust!»
    Agathe nickte.
    Er hatte ihre beiden Hände gefaßt.
    Die mattschimmernde Haut seiner Schwester, mit dem Geruch ihm unbekannter Pflanzen, die vor seinem Auge dem leicht ausgeschnittenen Kleid entstieg, verlor für einen Augenblick den irdischen Begriff Der Stoß des Blutes klopfte aus einer Hand an die andere. Ein tiefer Graben unweltlicher Herkunft schien sie und ihn in ein Nirgendland einzuschließen.
    Es

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