Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
mangelten ihm plötzlich die Vorstellungen, es zu bezeichnen; er verfügte nicht einmal über die, deren er sich dazu schon oft bedient hatte. «Wir wollen nicht aus der Eingebung der Augenblicke handeln, sondern aus dem bis ans Letzte währenden Zustand.» «So, daß es uns an den Mittelpunkt führt, von wo man nicht mehr zurückkommt, um zurückzunehmen.» «Nicht vom Rande und seinen wechselnden Zuständen her, sondern aus dem einzigen unveränderlichen Glück»: Solche Sätze kamen ihm wohl zu Munde, und es wäre ihm auch möglich erschienen, sie zu gebrauchen, hätte es nur als Gespräch geschehen sollen; aber in der unmittelbaren Anwendung, die sie zwischen ihm und seiner Schwester in diesem Augenblick erfahren sollten, war es plötzlich unmöglich. Das erregte ihn hilflos. Aber Agathe verstand ihn deutlich. Und es hätte sie glücklich machen müssen, daß zum erstenmal die Schale um ihn ganz zerbrach und ihr «harter Bruder» wie ein zu Boden gefallenes Ei das Innere preisgab. Zu ihrer Überraschung war aber diesmal ihr Gefühl nicht ganz bereit, mit dem seinen zu gehn: Zwischen Morgen und Abend lag die wunderliche Begegnung mit Lindner, und obwohl dieser Mann bloß ihr Erstaunen und ihre Neugierde erregt hatte, genügte auch ein solches Körnchen schon, die unendliche Spiegelung der eremitischen Liebe nicht entstehen zu lassen. Ulrich fühlte es an ihren Händen, noch ehe sie etwas erwiderte, und Agathe – erwiderte nichts.
    Er erriet, daß dieses unerwartete Sichversagen mit dem Erlebnis zusammenhänge, dessen Bericht er vorhin hatte anhören müssen. Beschämt und von dem Rückstoß seines unerwiderten Gefühls verwirrt, sagte er kopfschüttelnd: «Es ist doch ärgerlich, was alles du von der Güte eines solchen Menschen erwartest!»
    «Wahrscheinlich ist es das» gab Agathe zu.
    Er sah sie an. Er verstand, daß seiner Schwester dieses Erlebnis mehr bedeute als die Bewerbungen, die sie bisher unter seinem Schutz erfahren hatte. Er kannte sogar diesen Menschen ein wenig: Lindner stand im öffentlichen Leben: er war der Mann, der seinerzeit in der allerersten Sitzung der vaterländischen Aktion jene kurze, mit peinlichem Schweigen aufgenommene Rede gehalten hatte, die dem «historischen Augenblick» galt, oder ähnlichem, ungeschickt, aufrichtig und unbedeutend ...: Unwillkürlich blickte sich Ulrich um; aber er erinnerte sich nicht, diesen Mann unter den Anwesenden bemerkt zu haben, und wußte auch, daß er nicht mehr eingeladen worden war. Er mußte ihm anderswo ab und zu begegnet sein, wahrscheinlich in gelehrten Gesellschaften, und das oder jenes von ihm gelesen haben, denn während er sein Gedächtnis sammelte, bildete sich aus ultramikroskopischen Erinnerungsspuren wie ein zäher, widerlicher Tropfen das Urteil: «Ein fader Esel! Will man auf einer gewissen Höhe des Lebenszustands sein, so kann man einen solchen Menschen ebensowenig ernst nehmen wie Professor Hagauer!»
    Er sagte es Agathe.
    Agathe schwieg dazu. Sie drückte ihm sogar die Hand.
    Er hatte das Gefühl: Da ist etwas ganz widersinnig, aber es läßt sich nicht aufhalten!
    In diesem Augenblick kamen Leute in das Vorzimmer, und die Geschwister traten voneinander zurück. «Soll ich dich wieder hineinbegleiten?» fragte Ulrich.
    Agathe sagte nein und sah sich nach einem Ausweg um.
    Ulrich fiel mit einemmal ein, daß sie sich, um den andern zu entgehen, nur in die Küche zurückziehen könnten.
    Dort wurden Batterien von Gläsern gefüllt und Bretter mit Kuchen beladen. Die Köchin wirtschaftete in großem Eifer, Rachel und Soliman harrten auf ihre Ladung, flüsterten aber nicht miteinander, wie es früher bei solchen Gelegenheiten geschah, sondern standen reglos auf getrennten Plätzen. Die kleine Rachel machte ihren Knicks, als die Geschwister eintraten, Soliman ließ bloß seine dunklen Augen strammstehn, und Ulrich sagte: «Es ist drinnen zu heiß, können wir hier bei euch eine Erfrischung bekommen?» Er setzte sich mit Agathe an die Fensterbank und stellte zum Schein Teller und Glas hin, damit es, falls sie jemand entdecke, aussehe, wie wenn sich zwei Vertraute des Hauses einen kleinen Scherz gestatten. Als sie saßen, sagte er mit einem kleinen Seufzer: «Das ist also bloß Gefühlssache, ob man einen solchen Professor Lindner gut oder unerträglich findet!»
    Agathe beschäftigte ihre Finger mit einer eingewickelten Süßigkeit.
    «Das heißt:» fuhr Ulrich fort «das Gefühl ist nicht wahr oder falsch! Das Gefühl ist Privatsache

Weitere Kostenlose Bücher