Gesammelte Werke
geblieben! Es ist der Suggestion überlassen geblieben, der Einbildung, der Überredung! Du und ich sind nicht anders wie die da drinnen! Weißt du, was die drinnen wollen?»
«Nein. Aber ist es nicht gleichgültig?»
«Es ist vielleicht nicht gleichgültig. Denn sie bilden zwei Parteien, von denen die eine so recht oder unrecht hat wie die andere.»
Agathe sagte, es käme ihr doch etwas besser vor, an die Menschengüte zu glauben als nur an Kanonen und Politik: möge die Art, in der es geschehe, auch lächerlich sein.
«Wie ist denn dieser Mensch, den du kennen gelernt hast?» fragte Ulrich.
«Ach, das läßt sich gar nicht sagen; gut ist er!» antwortete seine Schwester und lachte.
«Du kannst so wenig auf das, was dir gut vorkommt, etwas geben wie auf das, was Leinsdorf so vorkommt!» erwiderte Ulrich ärgerlich.
Beider Gesichter waren lachend steif erregt: das leichte Strömen des höflich heiteren Ausdrucks von tieferen Gegenströmen gehemmt. Rachel spürte es unter ihrem Häubchen an den Haarwurzeln; aber sie fühlte sich selbst so elend, daß es viel gedämpfter geschah als früher, gleich einer Erinnerung aus besseren Zeiten. Das schöne Rund ihrer Wangen war unmerklich gehöhlt, der schwarze Brand ihres Auges von Mutlosigkeit getrübt: wäre Ulrich in der Laune gewesen, ihre Schönheit mit der seiner Schwester zu vergleichen, so hätte es ihm auffallen müssen, daß Rachels schwarzer einstiger Glanz wie ein Stückchen Kohle zerfallen war, über das ein schwerer Wagen hinweggefahren ist. Aber er achtete ihrer nicht. Sie war schwanger, und niemand wußte es außer Soliman, der ohne Verständnis für die Wirklichkeit des Unheils mit romantischen und läppischen Plänen darauf antwortete.
«Seit Jahrhunderten» fuhr Ulrich fort «kennt die Welt Gedankenwahrheit und darum verstandesmäßig bis zu einem gewissen Grad Gedankenfreiheit. In der gleichen Zeit hatte das Gefühl weder die strenge Schule der Wahrheit, noch die der Bewegungsfreiheit. Denn jede Moral hat für ihren Zeitlauf das Gefühl nur soweit, und in diesem Umkreis noch dazu starr, geregelt, als gewisse Grundsätze und Grundgefühle für das ihr beliebende Handeln nötig waren; das übrige hat sie aber dem Gutdünken, dem persönlichen Gefühlsspiel, den ungewissen Bemühungen der Kunst und der akademischen Erörterung überlassen. Die Moral hat also die Gefühle den Bedürfnissen der Moral angepaßt und dabei vernachlässigt, sie zu entwickeln, obwohl sie selbst von ihnen abhängt. Sie ist ja die Ordnung und Einheit des Gefühls.» Hier hielt er aber ein. Er fühlte Rachels mitgerissenen Blick auf seinem eifernden Gesicht, wenn sie auch für die Angelegenheiten großer Leute nicht mehr ganz die Begeisterung aufbringen konnte wie früher. «Es ist ja vielleicht komisch, daß ich sogar hier in der Küche von Moral spreche» sagte er verlegen.
Agathe sah ihn gespannt und nachdenklich an. Er beugte sich näher zu seiner Schwester und fügte leise mit einem zuckend scherzenden Lächeln hinzu: «Aber es ist nur ein anderer Ausdruck für einen Zustand der Leidenschaft, der sich gegen die ganze Welt bewaffnet!»
Ohne seine Absicht hatte sich nun der Gegensatz des Morgens wiederholt, worin er in der nicht angenehmen Figur des scheinbar Lehrhaften auftrat. Er konnte nicht anders. Moral war für ihn weder Botmäßigkeit, noch Gedankenweisheit, sondern das unendliche Ganze der Möglichkeiten zu leben. Er glaubte an eine Steigerungsfähigkeit der Moral, an Stufen ihres Erlebnisses, und nicht etwa nur, wie das üblich ist, an Stufen ihrer Erkenntnis, als ob sie etwas Fertiges wäre, wofür der Mensch bloß nicht rein genug sei. Er glaubte an Moral, ohne einer bestimmten Moral zu glauben. Gewöhnlich versteht man unter ihr eine Art von Polizeiforderungen, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird; und weil das Leben nicht einmal ihnen gehorcht, gewinnen sie den Anschein, nicht ganz erfüllbar, und auf diese dürftige Weise also auch den, ein Ideal zu sein. Aber man darf die Moral nicht auf diese Stufe bringen. Moral ist Phantasie. Das war es, was er Agathe sehen lassen wollte. Und das zweite war: Phantasie ist nicht Willkür. Überantwortet man die Phantasie der Willkür, so rächt sich das. In Ulrichs Mund zuckten die Worte. Er war im Begriff gewesen, von dem zu wenig beachteten Unterschied zu sprechen, daß die verschiedenen Zeitläufte den Verstand in ihrer Weise entwickelt, die moralische Phantasie aber in ihrer Weise fixiert und verschlossen haben.
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