Gesammelte Werke
Er war im Begriff gewesen, davon zu sprechen, weil die Folge ist: eine trotz aller Zweifel mehr oder weniger geradlinig durch alle Wandlungen der Geschichte aufsteigende Linie des Verstandes und seiner Gebilde, dagegen ein Scherbenberg der Gefühle, der Ideen, der Lebensmöglichkeiten, wo sie in Schichten so liegen, wie sie als ewige Nebensachen entstanden und wieder verlassen worden sind. Weil eine weitere Folge ist: daß es schließlich eine Unzahl von Möglichkeiten gibt, so oder so eine Meinung zu haben, sobald das ins Gebiet des grundsätzlichen Lebens reicht, aber keine einzige Möglichkeit, sie zu einigen. Weil eine Folge ist: daß diese Meinungen aufeinander losschlagen, da sie gar keine Möglichkeit haben, sich zu verständigen. Weil alles in allem die Folge ist, daß die Affektivität in der Menschheit hin und her schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat. Und Ulrich hatte eine Idee, die ihn schon den ganzen Abend verfolgte; übrigens eine alte Idee von ihm, und sie wurde an diesem Abend bloß immerzu bestätigt, und er hatte Agathe zeigen wollen, wo der Fehler läge und wie er zu beheben wäre, wenn alle wollten, und eigentlich hatte er damit ja nur die schmerzliche Absicht, zu beweisen, daß man eher auch den Entdeckungen seiner eigenen Phantasie nicht trauen dürfe.
Und Agathe sagte, mit einem kleinen Seufzer, so wie sich eine bedrängte Frau schnell noch einmal wehrt, ehe sie sich ergibt: «Man muß also doch alles ‹aus Prinzip› tun?!» Und sie blickte ihn an, sein Lächeln erwidernd.
Er aber antwortete: «Ja; aber nur aus einem Prinzip!» Und das war nun etwas ganz anderes, als er zu sagen vorgehabt hatte. Es kam wieder aus dem Bereich der Siamesischen Zwillinge und des Tausendjährigen Reiches, wo das Leben in zauberhafter Stille wächst wie eine Blume, und mochte es gleich nicht aus der Luft gegriffen sein, so deutete es doch gerade auf Grenzen des Gedankens hin, die einsam und trügerisch sind. Agathes Auge war wie ein auseinandergebrochener Achat. Wenn er in dieser Sekunde nur noch ein wenig mehr gesagt oder die Hand auf sie gelegt hätte, so wäre etwas geschehen, wovon sie bald danach nichts mehr angeben konnte, da es wieder unterging. Denn Ulrich wollte nicht mehr sagen. Er nahm eine Frucht und ein Messer und begann zu schälen. Er war glücklich darüber, daß die Entfernung, die ihn noch vor kurzem von seiner Schwester getrennt hatte, zu einer unermeßlichen Nähe zusammenschmolz, aber er war auch froh, als sie in diesem Augenblick unterbrochen wurden.
Es war der General, der mit dem listigen Auge eines Patrouillekommandanten, der den Feind im Biwak überrascht, in die Küche spähte: «Entschuldigung, daß ich störe!» rief er eintretend aus. «Aber bei einem tête à tête mit dem Bruder, Gnädigste, kann es ja unmöglich ein großes Verbrechen sein!» Und mit den Worten: «Man sucht dich wie eine Spennadel!» wandte er sich an Ulrich.
Und Ulrich sagte dann dem General, was er hatte Agathe sagen wollen. Aber zunächst fragte er: «Wer ist ‹man›?»
«Ich sollte dich doch zum Minister bringen!» klagte ihn Stumm an.
Ulrich winkte ab.
«Na, ist auch schon überholt» meinte der Gutmütige. «Der alte Herr ist gerade fortgegangen. Aber ich, wegen meiner eigenen Kompetenzen, muß dich dann, sobald die gnädige Frau eine bessere Gesellschaft gewählt hat als deine, noch verhören, wie du das mit dem ‹Glaubenskrieg› gemeint hast, falls du die Güte hast, dich noch an deine Worte zu erinnern.»
«Wir sprechen gerade davon» erwiderte Ulrich.
«Aber wie interessant!» rief der General aus. «Gnädige beschäftigen sich also auch mit Moral?»
«Mein Bruder spricht überhaupt nur von Moral» verbesserte es Agathe lächelnd.
«Das hat heute ja geradezu die Tagesordnung gebildet!» seufzte Stumm. «Der Leinsdorf hat zum Beispiel erst vor ein paar Minuten gesagt, Moral ist ebenso wichtig wie Essen. Das kann ich nicht finden!» Sprachs und beugte sich mit Gefallen über die Süßigkeiten, die ihm Agathe reichte. Es hatte ein Witz sein sollen. Agathe tröstete ihn: «Ich kann es auch nicht finden» sagte sie.
«Ein Offizier und eine Frau müssen Moral haben, aber sie sprechen nicht gerne davon!» improvisierte der General weiter. «Habe ich nicht recht, Gnädigste?»
Rachel hatte ihm einen Küchenstuhl gebracht, den sie eifrig mit ihrer Schürze abwischte, und sie wurde von seinen Worten ins Herz getroffen; beinahe kamen ihr die Tränen.
Stumm aber munterte
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