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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Justizirrtums vorkommen, sind es meistens auch nicht –» Ulrich machte eine Pause. Obwohl es seine Absicht gewesen war, nur darum von dem logisch strengen Begriff der Abbildung zu sprechen, daß er aus ihm die freien, und doch keineswegs beliebigen Folgerungen ziehen könne, von denen die verschiedenen im Leben vorkommenden Bildverhältnisse beherrscht werden, schwieg er jetzt. Es befriedigte ihn nicht, sich bei diesem Versuch zu beobachten. Er hatte in letzter Zeit viel vergessen, was ihm früher geläufig gewesen war, besser gesagt, er hatte es beiseite geschoben; sogar die scharfen Ausdrücke und Begriffe seines früheren Berufes, die er so oft benutzt hatte, waren ihm nicht mehr gefügig, und er spürte auf der Suche nach ihnen nicht nur eine unangenehme Trockenheit, sondern fürchtete sich auch, wie ein Pfuscher zu reden.
    «Du hast gesagt, daß einem Farbblinden nichts fehlt, wenn er die Welt sieht!» ermunterte ihn Agathe.
    «Ja. Natürlich hätte ich es nicht ganz so sagen sollen» erwiderte Ulrich. «Es ist alles in allem noch eine unklare Frage. Schon wenn man sich auf das geistige Bild beschränkt, das der Verstand von irgendetwas gewinnt, gerät man bei der Frage, ob es wahr sei, in die größten Schwierigkeiten, obschon man durchwegs eine trockene und lichtdurchglänzte Luft atmet. Nun sind gar die Bilder, die wir uns im Leben machen, um richtig handeln und fühlen zu können oder auch kräftig handeln und fühlen zu können, nicht bloß vom Verstand abhängig, ja oft sind sie höchst unverständig und nach seinen Maßen unähnliche Bilder; und doch müssen sie ihren Dienst erfüllen, damit wir in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und uns selbst bleiben. Sie müssen also nach irgendeinem Bildschlüssel oder irgendeiner Gebrauchsanweisung und gemäß dem Begriff, der die Art der Abbildung bestimmt, auch genau und vollständig sein, selbst wenn dieser Begriff Raum für verschiedene Ausführungen läßt –»
    Agathe unterbrach ihn lebhaft. Sie hatte plötzlich den Zusammenhang erfaßt. «Der falsche Bauer ist also ein Abbild des echten gewesen?» fragte sie.
    Ulrich nickte. «Ursprünglich hat ja auch ein Bild immer seinen Gegenstand ganz vertreten. Es hat Macht über ihn verliehen. Wer einem Bild die Augen oder das Herz ausstach, tötete den Abgebildeten. Wer sich des Bildes einer unzugänglichen Schönen heimlich bemächtigte, dem fiel sie anheim. Auch der Name gehört zu den Bildern; und so hat man Gott bei seinem Namen beschwören können, was soviel hieß wie gefügig machen. Wie du weißt, entwendet man übrigens auch heute noch heimlich Erinnerungszeichen oder schenkt sich Ringe mit dem eingegrabenen Namen und trägt Bilder und Locken als Talisman am Herzen. Da hat sich also etwas im Lauf der Zeit gespalten; das Ganze ist zum Aberglauben herabgesunken, und ein Teil hat dafür die trockene Würde der Photographie, der Geometrie oder Ähnliches erreicht. Aber denke einmal an den Hypnotisierten, der mit allen Anzeichen des Wohlgefallens in eine Kartoffel beißt, die ihm einen saftigen Apfel vertritt, oder denke an die Puppen deiner Kindheit, die du umso leidenschaftlicher geliebt hast, je einfacher und der Menschenähnlichkeit ferner sie gewesen sind, so bemerkst du, daß es nicht auf das Äußere ankommt, und bist wieder bei dem bolzsteifen Fetischpfahl, der einen Gott darstellt –»
    «Sollte man nicht beinahe sagen können, je unähnlicher ein Bild sei, desto größer die Leidenschaft dafür, sobald wir uns daran gebunden haben?» fragte Agathe.
    «Wahrhaftig!» stimmte ihr Ulrich bei. «Unser Verstand, unsere Wahrnehmung haben sich in dieser Frage von unserem Gefühl getrennt. Man kann sagen, daß die ergreifendsten Stellvertretungen immer etwas Unähnliches haben.» Er betrachtete sie lächelnd von der Seite und fügte hinzu: «Wenn ich nicht in deiner Gegenwart bin, sehe ich dich nicht ähnlich vor mir, so wie dich einer malen möchte; sondern mir ist eher, als hättest du in ein Wasser geblickt und ich bemühte mich vergeblich, darin mit dem Finger dein Bild nachzuzeichnen. Ich möchte behaupten, daß man nur Gleichgültiges richtig und ähnlich sieht.»
    «Seltsam!» erwiderte seine Schwester. «Ich sehe dich genau vor mir! Vielleicht weil mein Gedächtnis überhaupt zu genau und unselbständig ist!»
    «Ähnlichkeit der Abbildung ist eine Annäherung an das, was der Verstand wirklich und gleich findet; es ist ein Zugeständnis an ihn!» sagte Ulrich artig und fuhr vermittelnd fort:

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